Psychologie des Pokers und Glücksspiels richtig lernen Teil II
Nach wie vor kommt es Tag für Tag zu Streitereien, selbst unter Leuten, die die Verhaltensweisen am Pokertisch eigentlich im Schlaf beherrschen. Der Ausruf Floorman, Tisch Drei bedeutet in der Regel, dass eine Partie durch einen hartnäckigen Disput auf Eis gelegt wurde, weil keiner der beiden Spieler das Verhalten des anderen hinnehmen will. In Wirklichkeit geht es natürlich darum, dass einer von beiden im Begriff steht zu verlieren und innerlich aufgewühlt ist. Es gehört zu den Aufgaben von Eric und seinen Mitarbeitern, vom Dealer bis zum Saalchef, in diesen Augenblicken eine Entscheidung zu fällen. Dealer sind eine schwer geprüfte Spezies, die von den Spielern gern für ihr Pech verantwortlich gemacht wird. Äußerst dürftig entlohnt, werden sie zuweilen von gutherzigen Gewinnern mit einem großzügigem Trinkgeld bedacht – und von schlechten Verlierern auf das Übelste beschimpft.
Das eigentliche Kartengeben stellt nur einen kleinen Teil ihrer Tätigkeit dar: Sie müssen den Tisch leiten (oder schützen, wie es im Fachjargon heißt) sowie Ordnung und Disziplin aufrechterhalten – und das häufig in Situationen, in denen Spieler extreme Entscheidungen treffen. Vor allem aber müssen Dealer die Regeln kennen.
Geschichten über Dealer gibt es reichlich – und jeder kennt die Namen berühmter Spieler, die die Kartengeber am wenigsten leiden können. Doch ich konnte Eric und Henri mit einer Dealer-Anekdote überraschen, die sie noch nicht gehört hatten. Sie stammte von einem Freund, der gerade als Kartengeber an einem Pokertisch arbeitete, als einem ehemaligen Weltmeister eine Hand übel danebenging.
Selbst in guten Zeiten ein ziemlich schlechter Verlierer, reagierte der ehemalige Champ so wütend auf seine Niederlage, dass er den Dealer mit seinen Bunkerkarten bewarf, von dessen Schulter sie dann zu Boden fielen. Es folgte ein betretenes Schweigen, währenddessen der Dealer damit fortfuhr, den Stapel zu mischen. Als er keinen Kommentar, geschweige denn eine Entschuldigung hörte, machte er sich seelenruhig daran, die nächste Hand zu geben. Hey, schäumte der Exweltmeister, du kannst jetzt keine Karten geben! Das ist kein vollständiger Stapel! Zwei Karten liegen auf dem Boden! Völlig richtig, Sir, sagte mein Freund, der Dealer. Wenn Sie so freundlich wären, sie mir zu reichen, gebe ich gern aus einem vollständigen Deck.
Bis dahin sehe ich mich gezwungen, so weiterzumachen. Nun brach natürlich die Hölle los. Alle wurden sie herbeizitiert, vom Floorman über den Saalchef und den Manager des Kartensaals bis zum Casinobesitzer. Der Exweltmeister war ein hohes Tier und wollte sich von einem unbedeutenden Kartengeber keinesfalls eine solche Frechheit bieten lassen. Am Ende des Streits aber musste der frühere Champ auf die Knie gehen, die Karten suchen und wieder aufheben. Wie sich herausstellte, hatte sich der Dealer vollkommen korrekt verhalten; schließlich gibt es beim Pokern Regeln für alle Eventualitäten – und die besten Dealer auf der Welt kennen sie auch alle ganz genau.
Nachdem ich nun gelernt hatte, auf welche Feinheiten ich achten musste, brachte ich die heikle Frage von Assen als Startkarten auf – meines Erachtens ein entscheidendes Merkmal für den Unterschied zwischen Turnierpoker und dem Spiel um Bargeld. Asse sind zwar zweifellos das beste Blatt vor dem Flop, können danach aber schnell zu falschen Hoffnungen verleiten, wie ich bereits schmerzlich hatte erfahren müssen. Soweit ich es beurteilen konnte, schoben erfahrene Turnierspieler nur bei todsicheren Blättern ihren gesamten Chipstapel in die Tischmitte. Umgekehrt wusste ich auch: Wenn man es den anderen Spielern nur schwer genug machte, dann passten auch sie meist. In einer Partie um hohe Einsätze würde ich mit Sicherheit das Maximum auf ein paar Asse setzen. Aber erforderten Turniere nicht doch eine Extraportion Vorsicht?
Eric lachte mich aus. Um zu beweisen, dass er Recht hatte, blendete er mich zunächst mit seinem Pokerwissen und kaufte sich dann für das
1 500-Dollar-No-Limit- Hold’em-Turnier am nächsten Tag zu einem Drittel bei mir ein. Mit anderen Worten: Er übernahm 500 Dollar meiner Teilnahmegebühr und bekam dafür das Anrecht auf ein Drittel des Preisgeldes, das ich möglicherweise gewinnen würde. Doch dafür stellte er eine Bedingung: Falls ich zwei Asse als Handkarten bekam, musste ich sofort All-in gehen. Nachdem ich diese Regel akzeptiert hatte, kostete es mich lediglich 1 000 Dollar von meinem eigenen Geld plus Erics 500 Dollar, um mich beim Turnier am folgenden Tag am selben Tisch wiederzufinden wie mein alter Sparringspartner aus dem Mai, der zweifache Weltmeister Stu the Kid Ungar. Anscheinend hatte die Glücksgöttin einen schlechten Tag erwischt.
Schon bei der dritten Hand des Turniers bekam ich als Startkarten ein Paar Asse – und ausgerechnet Ungar hatte bereits vor dem Flop erhöht. Als ich mit dem Setzen an der Reihe war, in beruhigender letzter Position, fühlte ich mich aufgrund meiner Vereinbarung mit Eric moralisch dazu verpflichtet, den Einsatz des Kid mit allem zu erhöhen, was ich vor mir hatte. Ich machte mir noch nicht einmal die Mühe, meine Chips zu zählen, sondern ließ lediglich die Karo-König-Uhr als Glücksbringer aufblitzen und schob dann meinen gesamten Stapel in die Mitte – fest davon überzeugt, dass niemand auch nur auf die Idee kommen würde, mitzugehen.
Ungar tat es. Er dachte erst lange und angestrengt nach; dann ging er mit. Wir waren beide All-in. Um mich dazu zu zwingen, mein Blatt zu zeigen, deckte Ungar seine Karten auf: ein Paar Buben. Wie bei unserem letzten Aufeinandertreffen – diese Leute sollten wirklich ein besseres Gedächtnis für Gesichter entwickeln – schien er davon auszugehen, dass ich einer dieser Amateure war, die keine Ahnung vom Pokern haben. Als ich ihm meine beiden Asse zeigte, hatte er sich schon halb erhoben. Der Flop war einigermaßen qualvoll: Wäre ein Bube erschienen, hätte man mich als Verlierer mit mitleidigem Applaus bedacht.
Doch die Hand folgte den Wahrscheinlichkeiten und brachte keine Karte, die eines der beiden Blätter verbessert hätte. Ungar war aus dem Turnier, ich hatte meine Chips verdoppelt und konnte es gar nicht abwarten, Eric zu erzählen, wie Recht er doch gehabt hatte. An diesem Tag ging ich ganze vier Mal All-in und beendete das Turnier als respektabler Dreiundzwanzigster von 198 Teilnehmern, nur fünf Plätze jenseits der Preisgeldränge. Mein Stapel war bereits auf einen Notvorrat geschrumpft, als ich K-9 von Kreuz auf die Hand bekam, eine typische All-in-Hand. Die A-3 in Karo ging mit. Der Flop brachte Q-10-8-2-4, alles in Pik oder Herz, was das einsame Ass zum Gewinner machte. Allmählich begriff ich, wie schwer es werden würde, bei den Pokerturnieren in Las Vegas überhaupt Geld zu verdienen. Ich konnte nach meinen Maßstäben richtig gut spielen – geduldig, diszipliniert, nötigenfalls aggressiv – und würde dennoch Schwierigkeiten haben, auch nur in die Nähe der Preisgelder zu kommen. Nach wie vor war es mir noch nicht einmal gelungen, eine Teilnahmegebühr zurückgewinnen, ganz zu schweigen vom Erreichen des Finaltischs, wo um echtes Geld gekämpft wurde:
So sollte der Turniersieger einen Gewinn von 118 000 Dollar aus einem Pool von insgesamt 297 000 Dollar kassieren. Um mich zu bestrafen, fiel ich ohne Not in die Rolle des Journalisten zurück und nahm sozusagen in Sack und Asche an der Pressekonferenz nach dem Turnier teil. Es ist immer interessant mitzuerleben, wie der Sieger eines Pokerturniers verzweifelt nach einem Beruf sucht, den er offiziell in der Zeitung angeben kann. Dieser Kerl nun also, ein New Yorker, war nicht der erste große Gewinner, der angeblich im Import/Export arbeitete. Import/Export wovon? Dem Geld anderer Leute?
Deprimiert und plötzlich einsam, brauchte ich eine Art An-sporn. Das ist nicht der Zustand, in dem man Poker spielen sollte, wo Selbstbewusstsein der Schlüssel zum Erfolg ist. Das wichtigste Ereignis dieser Veranstaltung, ein No-Limit-Hold’em- Turnier mit einer Eintrittsgebühr von 5 000 Dollar, erschien mir allmählich unerschwinglich. Ich hatte lange, hart und einigermaßen gut gespielt, konnte aber nur den Verlust von 2 800 Dollar an Teilnahmegebühren für Turniere und Satellites vorweisen. Von den beim Blackjack gewonnenen 1 000 Dollar war die Hälfte für Geschenke, Essen und Trinkgeld draufgegangen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Reise stand ich bei einem Minus von 2 300 Dollar; ein schöner Brocken meiner ursprünglich 9 999 Dollar war also futsch.
Unter diesen Voraussetzungen wäre es töricht gewesen, beim Seven-Card-Stud-Turnier am nächsten Tag teilzunehmen. Manchmal nutzte ich solche Veranstaltungen als preiswertes Training, um mein Spiel zu verbessern, ohne allzu viel echtes Geld zu riskieren. In diesem Fall war die Teilnahmegebühr von 2 500 Dollar aber gleichbedeutend mit einem Jahr Schulgeld für eines meiner drei Kinder und sollte besser in deren Ausbildung investiert werden als in meine. Als ich mich dabei ertappte, wie ich eine meiner Grundregeln brach und mein Spielkapital gegen mögliche Ausgaben im richtigen Leben aufrechnete, musste ich feststellen, dass meine Moral einen Tiefpunkt erreicht hatte.
In Momenten wie diesen verliert Vegas etwas von seinem Zauber, und für einen Augenblick erhascht man einen Blick auf die Außenwelt – ein düsterer Horizont, überfrachtet mit Problemen, fast allesamt finanzieller Natur. Die meisten hätten sich mit dem schlichten Notbehelf lösen lassen, das gesamte Spielkapital beim Roulette auf Rot zu setzen und zu gewinnen – und gleich da vorne war auch schon ein ruhiger Tisch, der nur darauf wartete, dass ich die richtige Wahl traf. Weiche von mir, Vegas! Glücklicherweise haben solche Gedanken aber auch immer eine Kehrseite: Das heftige Schaudern in Anbetracht der Konsequenzen eines möglichen Verlusts wirkt auf jeden Glücksspieler, der noch halbwegs Herr seiner Sinne ist, wie ein wunderbar starkes Gegenmittel gegen diese Versuchung.
Und wie ich bald zum wiederholten Mal feststellen sollte, liegt die Rettung häufig in der Launenhaftigkeit des männlichen Egos, das erstaunlich wenige Anreize braucht, um sich erneut auf die Verheißungen der Glücksgöttin einzulassen. Wenn Jack Binion am Tisch vorbeikommt und einen fragt, wie’s denn so geht, will er alles hören, nur keine ehrliche Antwort. Wie ein Politiker auf Wahlkampftour oder der Papst beim Bad in der Menge macht Jack seine Runde und erteilt seinen Segen. Bedenkt man dann noch, dass der Laden ihm gehört und hier der höchste Umsatz pro Quadratmeter in ganz Vegas erzielt wird, sollte man eigentlich voller Demut schweigen und bestenfalls den Saum seines Gewandes berühren. Heute Abend jedoch erzählte ich Jack tatsächlich, wie es mir ging. Die Zeiten waren so schwer, dass ich mir den nächsten Tag pokerfrei gegeben hatte, um meine Weihnachtseinkäufe zu erledigen.
So mies also?, sagte er geistesabwesend und ließ seinen Blick über den Saal schweifen. Tja, dann … nehmen Sie eine Limousine. In diesem Augenblick hörte ich über Lautsprecher meinen Namen: Henri Bollinger ließ mich ausrufen, um mir mitzuteilen, dass die Lokalpresse mich interviewen wollte. Vierundzwanzig Stunden später war London Tony ein völlig anderer Mensch. Er hatte den ganzen Tag damit verbracht, stilvoll und komfortabel durch Vegas zu rollen, und in der Stretchlimo des Binion’s stapelten sich die Geschenke für seine Liebsten. Die ganze Zeit über wunderte er sich über die Höflichkeit und Geduld des Fahrers, mit der dieser ihn vom Einkaufszentrum zu einem abgelegenen Laden für Baseballkarten und von Toys’R’Us zum Gambler’s Book Club fuhr.
Außerdem hatte er die Frühausgabe des Las Vegas Review-Journal gelesen, die ihn in einem halbseitigen Artikel samt brauchbarem Foto zu einem der besten Pokerspieler der Welt erklärte. Wenn sie nur wollen, können selbst Journalisten glauben, dass etwas stimmt, weil es ja so in der Zeitung steht. Die Lebenslust in Person, aß ich an jenem Abend mit Henri im italienischen Restaurant des Horseshoe und überschüttete ihn dabei mit Anekdoten über meine Pokertalente. Als er sich irgendwann verabschiedete, schloss ich mich dem Kerl an, der allein am Nachbartisch saß. Es war ein gewisser Billy Mac aus New Orleans, der mir von den Freuden des Cajun Cup in Louisiana erzählte, ein Turnier, das verlockenderweise genau in meinen Terminplan für die kommenden Ostertage passte. Nie wieder würde ich es mit so vielen leichten Opfern zu tun haben, versprach er.
Voller Überschwang – und hervorragendem italienischen Rotwein – kamen wir irgendwann zu dem Schluss, es müsse auch hier im Casino ein paar derartige Trottel geben. Wieso gingen wir nicht gleich an die $ 4/$ 8-Tische und leerten ihnen die Taschen aus? Wir waren ohnehin schon ziemlich angesäuselt – warum dann nicht wie völlig Betrunkene auftreten, bei denen knickrige alte Zocker um mehr erhöhen, als sie gewohnt waren, und richtig abräumen? Wir amüsierten uns königlich. Die verhärmten Gesichter in der $ 4/$ 8-Sträflingskolonie wussten nicht, wie ihnen geschah:
Da hatten sie nun den ganzen Abend über hier gesessen und ihre ruhige, kalkulierte Partie Poker gespielt, als plötzlich dieser doppelte Tornado über sie hereinbrach und den Tisch übernahm – allem Anschein nach besoffen, heftig herumblödelnd, fast jede Hand spielend und fast immer erhöhend. Im fahlen Licht des nächsten Morgens betrachtet, war es erstaunlich, wie gut diese Technik fünktioniert hatte. Ein paar Mal mit Glück gewonnen, und sie waren völlig aus der Fassung. Ich benötigte knapp anderthalb Stunden, um 500 Dollar zu gewinnen, nüchtern zu werden und zu begreifen, dass die Satellitenturniere für das 2500-Dollar-Pot-Limit-Omaha-Turnier am nächsten Tag schon im Gange waren. Nachdem mein Gehirn sich von Hold’em auf Omaha umgestellt hatte und offenbar auf vollen Touren lief, verabschiedete ich mich überschwänglich von Billy Mac und steuerte den Turnierbereich an.
Den besten Profis schmeckt das Konzept der Satellites nicht, da sie die Trottel von den Partien um echtes Geld weglocken: Gegen eine Teilnahmegebühr von maximal 250 Dollar können begeisterungsfähige Amateure auf hohem Niveau Erfahrungen beim Omaha sammeln, ohne dabei ihr letztes Hemd zu verlieren; doch nach Meinung der Topspieler sollte genau das an den Bargeldtischen passieren. Umso befriedigender kann es sein, wenn man in beiden Satellites einen Lauf hat – hier, wo schließlich im vergangenen Mai meine Profikarriere begonnen hatte. Bei derart beschränkter Haftung und der Chance, es binnen Mi-nuten erneut versuchen zu können, waren Satellitenturniere zu diesem Zeitpunkt meine einzige Hoffnung, wie ein richtiger Profi zu spielen.
An diesem Abend stellte ich es unter Beweis. Ich traf kühne, aber präzise Entscheidungen, vor denen ich bei Alles-oder- Nichts-Turnieren vielleicht gekniffen hätte – ganz zu schweigen von den
Das-könnte-schiefgehen-und-furchtbar-viel-Geld- kosten-Partien um hohe Einsätze. Beim ersten Satellite schaffte ich es bis ins Heads-up und hatte etwa gleich viele Chips wie mein Gegner. Der Mann wollte unbedingt gewinnen, war sich jedoch so unsicher in Bezug auf meine Fähigkeiten, dass er mir ein Geschäft anbot: Falls ich mich geschlagen gab, würde er mir 1 250 Dollar in bar bezahlen, den Gegenwert der Chips, die zu diesem Zeitpunkt vor mir lagen. Für ihn bedeutete dies, dass er sich für nur 1 500 Dollar den Einstieg in ein 2 500-Dollar-Turnier sicherte. Das Satellitenturnier würde sich also für uns beide lohnen: Anstatt dass einer von uns beim Showdown einen plötzlichen Tod erlitt, ernteten wir beide finanzielle Anerkennung dafür, dass wir acht andere Teilnehmer aus dem Feld geschlagen hatten.
Plötzlich erkannte ich, wie sich mir ganz neue Möglichkeiten beim Pokern eröffneten. Bereitwillig nahm ich das Angebot an, steckte meinen Gewinn von 1 000 Dollar in die Tasche – und schrieb mich für das nächste Satellitenturnier ein. Die Sache schien mir ein neuer Weg zu schnellem Gewinn, eine angenehme und lehrreiche Methode, aus kleinen Risiken große Gewinne zu machen. Und da sich mein neu gewonnenes Selbstbewusstsein auch in meiner Spielweise niederschlug, schaffte ich es erneut bis ins Heads-up der letzten beiden Spieler am Tisch. Dieses Mal war ich es, der – obwohl in Sachen Chips geringfügig besser gestellt – meinem verblüfften Gegenspieler ein Angebot machte: Ich würde ihn gewinnen lassen und ihm dadurch die Teilnahme am Turnier des nächsten Tages sichern, falls er mir, mal sehen, 1 500 Dollar in bar gab.
Wie vermutet, war der Kerl ein Tourist und hatte so einen Vorschlag noch nie zu hören bekommen. Also erklärte ich ihm die Alternativen: (1) Er konnte mir 1 500 Dollar zahlen, wodurch er nur 1 750 Dollar für die Teilnahme an einem 2500-Dollar-Turnier bezahlte, also 750 Dollar sparte. (2) Er konnte weiterspielen und verlieren, wodurch ihn allein seine Teilnahmegebühren 250 Dollar mehr kosteten als die 2 500 Dollar. (3) Er konnte weiterspielen und gewinnen – eine Ersparnis von 2 250 Dollar. Doch ich hatte mehr Chips als er, die Einsätze stiegen ständig, und ein Head-to-Head ist immer ein wenig wie Würfeln. Ich sagte ihm, ich würde ihm das Angebot nur machen, weil ich gerne Satellitenturniere spielte. Klar, brummte er misstrauisch, und ich habe Ihr Gesicht heute Morgen in der Zeitung gesehen. Also gut, wir sind im Geschäft. Obwohl mir leicht der Kopf schwirrte, kam mir seine Folgerung unlogisch vor. Ich war noch dabei, mir einen Reim darauf zu machen – warum bezahlte er, wenn er glaubte, dass ich ihn reinlegen wollte? -, als ich die 1 500 Dollar einsteckte.
Zwei Satellites gespielt, einen Gewinn von 2 250 Dollar eingestrichen. Das machte richtig Spaß. Beim nächsten Versuch war ich übertrieben selbstbewusst und verjubelte meine 250 Dollar Teilnahmegebühr in null Komma nichts bei einer absurd optimistischen Zukauf-Hand. Ich verfluchte diesen einen Fehler bei ansonsten grimmig konzentrierter Spielweise, schaute auf die Karo-König-Uhr und stellte fest, dass es bereits nach drei war. Das Turnier, an dem ich eigentlich teilnehmen wollte, begann um zwölf. Falls ich dafür auch nur halbwegs in Form sein wollte, musste ich bald ans Schlafen denken. Als sich dieser Gedanke in mir gesetzt hatte, war ich bereits für mein nächstes Satellitenturnier angemeldet, mein viertes in dieser Nacht. Voller Energie dank meiner vorherigen Erfolge war ich der einzige Spieler am Tisch, der bemerkte, wie müde alle anderen aussahen. Einige meiner Kontrahenten wirkten außerdem völlig niedergeschlagen – offenbar versuchten sie sich an ihrem letzten Satellite, bevor sie aufhören und alle Hoffnung auf eine Turnierteilnahme fahren lassen mussten. Wer erfolglos fünf Satellites hintereinander spielt, hat schließlich bereits die Hälfte des Eintrittsgelds für das eigentliche Turnier verzockt.
Während ich ein ums andere Mal vorsichtig passte, entwickelte ich eine neue Theorie. Die Topspieler mussten sich um diese Zeit nicht mehr mit den Satellites abgeben: Entweder hatten sie bereits ein solches Turnier gewonnen, oder sie machten sich gar nicht erst die Mühe. Die meisten Nachzügler waren per definitionem Spieler mit so wenig Bargeld, dass sie sich die Turnierteilnahme nur durch den Gewinn eines Satellites erspielen konnten. Um ein halbes Dutzend davon zu verlieren und trotzdem für das Turnier am nächsten Tag die Teilnahmegebühr zu berappen, musste man eine Art Exzentriker sein – selbst ein reicher Glücksspieler bezahlt nicht gern 4 000 Dollar, um bei einem 2 500-Dollar-Turnier dabei zu sein. Mein hellwacher Verstand sagte mir daher, dass ich hier am Tisch nicht nur der beste Pokerspieler sein musste, sondern auch der Einzige, der noch einigermaßen sorgsam kalkulierte. Die Kraft der Selbstüberzeugung, in diesem Fall unterstützt vom Lob einer Lokalzeitung, führte mich erneut bis ins Heads-up der letzten beiden Spieler. Dieses Mal bot ich keine Absprachen an und akzeptierte auch keine – ich wusste einfach, dass ich gewinnen würde.
Und das tat ich auch. Den aufgeregten Jubelschrei verkniff ich mir, bis ich allein im leeren Fahrstuhl stand. In sechs Stunden Spielzeit hatte ich an diesem Abend einen Reingewinn von 2 250 Dollar erzielt und mir die kostenlose Teilnahme an einem
2500- Dollar-Turnier gesichert. Damit hatte ich mein Konto bis auf 50 Dollar wieder ausgeglichen – was einem in Vegas wie ein Gewinn vorkommt. Und meine Weihnachtseinkäufe waren auch schon bezahlt. Aufgrund meiner Hochstimmung war an Schlaf nicht zu denken. Daher bestellte ich einen Weckruf für 11.00 Uhr und machte es mir mit einem anspruchsvollen Buch im Bett gemütlich, das ich mir für diesen Moment aufgehoben hatte. How T’o Win at Poker Tournaments, geschrieben von Tom McEvoy, dem Weltmeister des Jahres 1 983, erklärt bis ins kleinste Detail die Unterschiede zwischen Turnierpoker und richtigem Poker. Es enthält Abschnitte über kleine, mittlere und hohe Ein-sätze bei Limit- und No-Limit-Turnieren sowie Poker-Artikel zum Spiel im Heads-up, der richtigen Strategie bei Rebuy-Turnieren (bei denen man bis zu einem bestimmten Zeitpunkt Chips nachkaufen kann) und ähnliche Geheimnisse.
Wie alle Pokergurus von heute legt McEvoy größten Wert auf die Position und listet Blätter auf, die man im fortgeschrittenen Turnierstadium spielen oder eben nicht spielen sollte. Außerdem drängt er seine Leser, diese Listen auswendig zu lernen, und warnt vor so vielen und vielfältigen Fallen, dass mich die Tatsache überraschte, dass sein Poker-Portal kein Artikel über die richtigen Straßen- und Wetterbedingungen enthielt. Wer diese Bücher gelesen hat, dem schwirrt der Kopf, da sie stark an Matheaufgaben aus früher Schulzeit erinnern. Man träumt danach von Pokerpartien mit Flussdiagrammen, Geodreiecken und Taschenrechnern. Das alles hinderte mich jedoch nicht daran durchzuschlafen, denn plötzlich war es 13.30 Uhr. Eine Katastrophe! Entweder hatte ich keinen Weckruf erhalten oder das Klingeln überhört – und das Turnier lief nun bereits seit über einer Stunde. Halb angezogen sprintete ich die Treppe hinunter, in der Hoffnung, ich könnte dank einer unerwarteten Verzögerung noch unauffällig auf meinen Platz rutschen. Umso enttäuschter musste ich feststellen, dass bereits die ersten Tische entfernt wurden.
Wenn schon so viele Spieler aus dem Turnier geflogen waren, konnte ich nur beten, dass der Turnierleiter Jack McClelland mein Fehlen bemerkt, mir einen Platz zugewiesen und dem Dealer den Auftrag gegeben hatte, meine obligatorischen Einsätze von meinem Chipstapel einzuziehen, bis ich aufkreuzte. Andernfalls wäre meine hart erarbeitete Teilnahmegebühr verfallen. Nachdem ich mit Jack ein paar Worte gewechselt hatte, stellte sich heraus, dass Eric Drache durch den Saal gegangen war und sich tatsächlich gewundert hatte, wo ich blieb. Lass dich nächstes Mal von der Turnierleitung anrufen, Tony, meinte Jack. Die haben hier den besten Weckdienst. Dennoch war die Situation nicht ohne Peinlichkeit – Spieler, die schon eine Zeitlang gnadenlos gekämpft haben, ärgern sich über faule Nachzügler. Also nahm Jack meinen Chipstapel in die Hand und ließ es so aussehen, als sei ich von einem aufgelösten Tisch einem anderen Tisch zugewiesen worden.
Irgendwann wurde mir bedeutet, auf einem Sitz neben … Tom McEvoy Platz zu nehmen, dem Mann also, der für meinen langen, von Träumen heimgesuchten Schlaf verantwortlich gewesen war. Ich hatte das Gefühl, ihn wie einen Bruder zu kennen. Zusätzlich hatte ich das Gefühl, seine Spielweise so gut zu kennen wie meine eigene. Die Profis machen häufig Witze über die von ihnen verfassten Bücher: Sie fragen sich, ob sie ihre Betriebsgeheimnisse wirklich allen möglichen Trotteln verraten sollten, und allmählich verstand ich, worauf sie damit hinauswollten. Das berühmteste Beispiel ist der große Doyle Brunson, dessen 656-seitiges Lehrbuch Super/System im wahrsten Sinne die Geschichte des Pokerspiels verändert hat. Ursprünglich 1 978 als How I Made Over $ 1 000 000 Playing Poker erschienen (ein Titel, den am Ende selbst der gute Doyle für etwas zu reißerisch hielt), wurde es weltweit so oft gelesen und abermals gelesen, dass es rund um den Globus Standards setzte. Touristen wie ich stellten fest, dass dieser schwere Schinken unser Spiel so sehr verbesserte, dass er den Übergewichtszuschlag auf Reisen allemal wert war: Nach Yardley war dies das erste Pokerbuch, das man als Bibel feierte.
Doyle selbst gibt heute wehmütig zu, dass einige seiner Ideen inzwischen veraltet sind, da sie allzu oft in die Praxis umgesetzt wurden. Es ist zu Frankensteins Monster geworden, sagte er mir. Jahrelang geriet ich an Leute, die so spielten wie ich. Ich musste mir neue Tricks einfallen lassen – aber die werde ich ganz sicher in kein Buch reinschreiben. Das zweite Buch, das nachhaltigen Einfluss auf die Hold’em- Spielweise auf höchstem Niveau ausgeübt hat, ist ein Handbuch für fortgeschrittene Spieler, herausgegeben von zwei intellektuellen Pokerprofis namens David Sklansky und Mason Malmuth. Neben Mad Mike Caro, dessen Computeranalysen, Handbücher, ja sogar Videos Kultstatus bei den Spielern der Mittelklasse genießen, ist Sklansky vermutlich im Augenblick der führende Theoretiker des Spiels, mit einer ganzen Latte von Veröffentlichungen. Die anderen Profis ziehen ihn zwar gern damit auf, dass er immer noch nicht die World Series gewonnen hat, doch ohne Sklanskys strenge Spielprinzipien kann man in den Kartensälen von Nevada oder Kalifornien heute kaum noch bestehen.
Streng bedeutet in diesem Fall verhalten – und zwar so verhalten, dass ich die ganze Woche kaum eine Hand gespielt hätte, wenn ich Sklanskys Prinzipien gefolgt wäre. McEvoys Handbuch war noch etwas aktueller – vor allem für jemanden, der die ganze letzte Nacht im wahrsten Sinne die Nase hineingesteckt hatte. In meinen Augen spielte der Welt-meister von 1 983 ein paar herrliche Stunden lang sozusagen wie ein offenes Buch. Ich merkte, wann er das beste Blatt am Tisch schwach anspielte oder ein schwaches Blatt überspielte, indem er seine späte Position dazu benutzte, sich unauffällig in die Hand hineinzuschleichen. Ich konnte regelrecht hören, wie er sich seine eigenen, vertrauten Ratschläge gab. Nach einem ziemlich verschlafenen Start begann auch ich, mit jenem ruhigen, zuversichtlichen Selbstbewusstsein zu spielen, für das McEvoy bekannt ist. Als in der Folge weitere Abgänge dazu führten, dass unser Tisch aufgelöst wurde und ich mich kurz danach an einem anderen Tisch ihm direkt gegenüber wiederfand, hatte ich das unangenehme Gefühl, mein Spiegelbild vor mir zu sehen.
Dank meiner Verspätung hatten die Pflichteinsätze meinen Chipstapel über fast anderthalb Stunden schrumpfen lassen. Auf diese Weise kann man sich zwar recht lange in einem Turnier halten – schließlich ist es so, als würde man bei jedem Blatt aussteigen -, aber ganz sicher kann man so nicht gewinnen. Ich musste also meinen Stapel unbedingt aufstocken, und das an einem Tisch, an dem sich bereits ein wachsamer Rhythmus eingependelt hatte. Zwar hätte ich diesen Rhythmus liebend gern durchbrochen und den Nachteil meiner verspäteten Teilnahme durch ein paar exzentrische, aber erfolgreiche Hände in einen Vorteil verwandelt, doch stattdessen zwang ich mich zu hochgradiger Selbstkontrolle. Sklansky wäre stolz auf meine wohlüberlegte Untätigkeit gewesen.
Da nur wenige Pokerprofis je eine Zeitung aufschlagen, war mein Gesicht glücklicherweise nach wie vor weitgehend unbekannt. Andererseits erwartete mich dank des Artikels in der Morgenzeitung jetzt auch noch ein kurzer Auftritt im Lokalfernsehen – als die Art von Gast, die im Umfeld der düsteren Abendnachrichten für ein wenig angenehme Abwechslung sorgt. Zufällig überschnitt sich diese Sendung zeitlich mit der täglichen Turnierpause beim Abendessen und würde also von vielen Spielern gesehen werden, die sich für den bevorstehenden Abend auf ihrem Zimmer ausruhten. Da meine relative Anonymität bisher mein größter Vorteil gewesen war – wie Freunde mir wenig schmeichelhaft vor Augen geführt hatten -, blieb mir nur noch wenig Zeit, den Unschuldigen zu spielen.
Doch hinter meiner Unschuld verbarg sich das Wissen, dass all diese Handbücher eine neue Spezies von stereotypem Pokerspieler hervorgebracht haben, der von seinen Profikollegen eine ähnlich orthodoxe Spielweise erwartet. So gilt etwa eine 5 in unterschiedlicher Farbe als Paradeblatt für das Passen in frühen und mittleren Positionen; die Fachleute empfehlen jedoch, sich mit einer solchen niedrigen Sequenz an später Position in die Hand hineinzustehlen, falls der Pot noch nicht erhöht wurde. Genau dies tat ich dann auch, ziemlich zu Anfang des Turniers – nur um mit anzusehen, wie der Flop A-2-3 brachte, davon zwei Mal Karo. Bei Omaha ist das keine ungefährliche Situation, da sich im weiteren Verlauf der Hand höhere Straßen ergeben können und außerdem das Risiko eines Flushs besteht. Den Höchsteinsatz von Platz Drei zu bringen, den Platz Fünf und Platz Sechs bereits gebracht haben, kam daher nicht in Frage.
Dank Brunson, McEvoy und anderer ehemaliger Weltmeister – Pokergötter, die so großzügig waren, ihre Zehn Gebote zu veröffentlichen -, wusste ich, dass alle drei Spieler wahrscheinlich auf Drawing Hands setzten (Kaufblätter, die noch eine bestimmte Karte benötigten, um zu Siegblättern zu werden) und bestenfalls Drillinge auf der Hand hatten. Also bot sich mir nur die Alternative, kleinlaut zu passen oder sie (und mich selbst) zu Tode zu erschrecken, indem ich um alles erhöhte, was ich besaß. Dank der Lehrbücher wusste ich, dass mich die anderen in dieser Situation wahrscheinlich richtig lesen würden. Der einzige Platz, auf dem ich mit 4-5 nach wie vor im Pot bleiben konnte, war der, auf dem ich saß. Darüber hinaus war mein Einsatz hoch genug, dass jeder der anderen Spieler gegen die Quoten verstoßen musste, wenn er mit mir mitgehen wollte.
Und wie vorhergesehen passten sie alle – und ich sackte einen Pot ein, der groß genug war, dass er mein Zuspätkommen wiedergutmachte. Damit besaß ich genug Kapital, um mein Spiel ein wenig zu variieren; ich konnte mich unberechenbar verhalten und sie über die Frage grübeln lassen, ob ich die Lehrbücher überhaupt gelesen hatte. Auf diese Weise hielt ich mich so lange im Turnier, dass ich gezwungen war, meinen Fernsehauftritt zu verschieben, und mich ebenfalls für eine erholsame Essenspause und die Abendnachrichten auf mein Zimmer zurückzog. Leider investierte ich schon kurz nach Wiederbeginn meinen gesamten Stapel voreilig in eine Top Straight auf dem Flop, nur um mit ansehen zu müssen, wie diese auf dem River von einem Full House geschlagen wurde – gegen eine Wahrscheinlichkeit von 10:1. Eine derartige Dreistigkeit hätte bei Sklansky wohl für Stirnrunzeln gesorgt, doch ich konnte mir keine Trauer erlauben. Als Zweiundzwanzigster von dreiundsiebzig Teilnehmern landete ich vier Plätze außerhalb des Preisgelds, das sich an jenem Abend auf 182 500 Dollar belief.
Auf dem Papier war das erneut ein anständiges Ergebnis, doch es half meinem Spielkapital wenig. Also steuerte ich, ohne eine Essenspause einzulegen, den Casinobereich für die Satellitenturniere an, in dem man sich für 150 Dollar Einsatz einen Platz für das 1 500-Dollar-Pot-Limit-Hold’em-Turnier sichern konnte. Wieder einmal bewirkte die trügerische Illusion, ich säße eigentlich schon am Finaltisch, wahre Wunder für mein Spiel: Da nur neun Spieler zu schlagen waren, und nicht hundert oder mehr, schien sich mein gesamtes Pokerverhalten zu verändern. In Wirklichkeit waren es sogar nur acht Spieler – denn bei allen vier Satellites, die ich Lauf der kommenden vier Stunden spielte, nutzte ich jedes Mal die Möglichkeit zu einem Deal. Beim Heads-up im ersten dieser Turniere, in das ich mit doppelt so vielen Chips ging wie mein Gegner, ließ ich mich von meinem überraschten Kontrahenten für 1 000 Dollar auszahlen.