Poker und die andere Wettarten im Kasino Teil I – detailliertere Information
Geht man zu unsanft mit einem Flipper um – nach dem Motto: lassen wir die Silberkugel doch mal richtig von den Flipperarmen abprallen beendet der Apparat das Spiel von sich aus und lässt neben dem Ergebnis nur ein einziges Wort aufleuchten: TILT. Das Gleiche kann, in der Pokersprache, auch einem Menschen widerfahren. Egal, über wie viel Erfahrung er verfügt, ein Verlierer geht häufig unsanft mit sich selbst um und schiebt sein Wissen über Quoten und Chancen zugunsten reinen Wunschdenkens bedenkenlos zur Seite. Auf diese Weise verjubelt jemand, der tausend Dollar verloren hat, beim Versuch, das Geld zurückzugewinnen, häufig noch zwei weitere Tausender. Meist klettert er dabei halb aus seinem Finanzloch hervor, bekommt erneut eins auf die Mütze, rutscht wieder ab und muss dann feststellen, dass das Loch noch tiefer geworden ist als zuvor. Bei Desperados, die so spielen, sagt man, dass sie on tilt oder heißgelaufen sind.
So etwas spricht sich rasch herum, und die Zocker kommen in Scharen herbeigeströmt, um sich auch ein Stück von diesem Kuchen zu sichern. In Las Vegas muss man nur Tourist on tilt, Tisch Fünf im Horseshoe rufen und kann förmlich zusehen, wie das Gedränge vor der Absperrkordel größer und größer wird vor lauter Leuten, die tief in die Tasche greifen würden, um bei dieser rituellen Schlachtung mitzuverdienen. Während meines Jahres als Pokerprofi würden Situationen auf mich zukommen, in denen ich dringend meine eingebaute Wasserwaage brauchte, um den Grad meiner aktuellen Selbsterkenntnis auszutarieren. Bin ich in so guter Verfassung, dass ich Verantwortung für mein Spielkapital übernehmen kann?, lautet die Frage, die man sich als Pokerprofi ständig stellen muss – und man sollte dabei auf eventuelle Zeichen einer Abweichung von der Norm achten. Zu Anfang meiner Karriere kam ich mir daher auch weniger vor wie der Fels von Gibraltar als wie der Schiefe Turm von Pisa.
Im Nachhinein betrachtet, war es vielleicht ein Fehler, meine ersten Auftritte im internationalen Pokerzirkus genau auf die beiden Wochen zu legen, in denen zwei meiner Bücher auf beiden Seiten des Atlantiks erschienen. Aber daran ließ sich nun mal nichts ändern. Die erste große Veranstaltung des Jahres, die European Poker Championship, sollte Mitte November auf Malta stattfinden – wenige Tage nachdem in den Vereinigten Staaten eine von mir verfasste Biographie erschien und kurz bevor ein weiteres meiner Bücher in Großbritannien auf den Markt kam. Da ich den Zeitplan beider Verlage schon genug durcheinandergebracht hatte, war ich nicht in der Position, weitere zeitliche Verzögerungen zu erbitten. Und auch der Gegenstand einer der beiden Biographien – Seine Königliche Hoheit, der Prince of Wales – würde mir wahrscheinlich nicht den Gefallen tun, meinetwegen seinen vierzigsten Geburtstag zu verschieben.
Daher lief die Poker-Europameisterschaft bereits seit einer Woche, als ich an einem trüben britischen Novembermorgen in Heathrow beim Einchecken erfuhr, dass der Air- Malta-Flug nach Valletta aufgrund von Nebel auf unbestimmte Zeit verschoben worden war. Ich lief binnen weniger Sekunden heiß. Es schien die Vertreter der Fluggesellschaft nicht weiter zu stören, dass ich bei mehr als zwei Stunden Verspätung den Beginn der entscheidenden Veranstaltung verpassen würde – das Texas Hold’em-Turnier. Je mehr ich zeterte, desto mehr speisten sie mich lächelnd mit billigem Sekt und einem Gesichtsausdruck ab, den sie sich für verwohnte reiche Kinder Vorbehalten. Ich reiste First Class, dank freundlicher Unterstützung der Jungs von der Dienstagabendrunde, die darüber hinaus auch für meine Hotelrechnung aufkommen würden, doch die Kräfte der Natur haben wenig Respekt vor der Farbe des Geldes.
Während ich in der Rembrandt Lounge von Heathrow Däumchen drehte und zwanghaft Zeitunterschiede, Fluggeschwindigkeiten und die Entfernung vom Flughafen zum Casino berechnete, drängte sich die reale Welt gnadenlos in meinen Alltag. Das blieb auch so, als sich der Nebel aufgeklart hatte, die Maschine mit drei Stunden Verspätung abgehoben war und ich während des gesamten Flugs nach Malta auf meinen Fingernägeln gekaut hatte. Noch auf dem Flughafen sah ich ein bekanntes Gesicht von den Londoner Pokertischen. Der Mann war auf dem Nachhauseweg, hatte alles verloren und nur noch einen guten Rat für mich übrig: Da findest du nie im Leben allein hin, Tony. Nimm dir ein Taxi. Und rühr den Käse nicht an. Die haben alle eine Lebensmittelvergiftung.
Und wie war die Action? Ganz gut… fünfzig Amerikaner unter denen, die noch am Start sind. Es war bereits nach 18.00 Uhr, dem offiziellen Beginn des Hold’em-Turniers. Ob ich es noch schaffen würde? Ach, darüber würde ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Die fangen nie pünktlich an. Aber an den Nebentischen ist sowieso viel mehr zu holen. Wenn du ein paar gute Karten bekommst…
Daraufhin machte er Anstalten, mir von seinen Bad Beats zu erzählen – den Händen, die er trotz erstklassigen Blatts unglücklich verloren hatte. Mit dem Hinweis auf meine Müdigkeit und Eile ergriff ich die Flucht. Während das winzige Taxi quälend langsam durch die maltesische Hauptstadt holperte, überflog ich zum x-ten Mal die Broschüre. Dabei fiel mir ein, welch großen Wert die meisten europäischen Casinos auf die Kleiderordnung legen: Jackett und Krawatte für den Herrn, keine Shorts oder Jeans, keine T-Shirts oder Turnschuhe. Das Management behält sich das Recht vor, unpassend gekleideten Gästen den Eintritt zu verwehren. Daher würde ich zunächst im Hotel einchecken müssen, ehe ich mich zum Casino aufmachen konnte – und mir so eine weitere Verspätung einhandeln. Ich würde es niemals rechtzeitig zum Turnier schaffen.
Als ich schließlich um 21.00 Uhr in das Dragonara Casino stolperte, genau drei Stunden nach dem offiziellen Turnierbeginn, begegnete ich als Erstem einem alten Freund aus Vegas – Frank Cutrona, Eric Draches Nummer Zwei im Kartensaal des Golden Nugget. Hier auf Malta war Frank Turnierleiter. Ich berichtete ihm von meinem traurigen Schicksal, dieser Mischung aus Londoner Nebel, maltesischem Regen und frustriertem Ehrgeiz. Kein Problem, Tony, meinte er grinsend. Die Jungs sind erst mal essen gegangen. Vor zehn Uhr läuft überhaupt nichts. Wirklich? Und ob. Wenn du willst, hast du sogar noch Zeit für ein Satellitenturnier. Natürlich wollte ich. Und da drüben steht das kostenlose Büfett. Aber rühr den Salat nicht an, Tony. Hier haben sich schon jede Menge Leute eine Lebensmittelvergiftung eingefangen.
In einer Ecke des Saals entdeckte ich mehrere vertraute britische Gesichter aus dem Victoria und dem Barracuda – und dazu einige weniger vertraute aus Amerika, den lauten Stimmen, Baseballkappen, T-Shirts und Jeans nach zu urteilen. Da ich es nicht gewohnt war, in Jackett und Krawatte Poker zu spielen, kam ich mir total overdressed vor. Hey, Frank, was ist denn mit der Kleiderordnung passiert? Ach, du weißt doch, wie die Jungs sind, Tony. Sie haben sich gleich am ersten Tag davon verabschiedet.
Ich hätte es wissen müssen. Große Gruppen von Amerikanern auf Auslandsreise setzen in der Regel ihren Kopf durch – erst recht, wenn es sich dabei um Pokerspieler handelt. Wie ich bald erfahren sollte, gab sich die siebenundvierzigköpfige US- Delegation nicht damit zufrieden, die Kleiderordnung über den Haufen zu werfen und die Turnierzeiten vorzuschreiben; am Schalter des Casinos wurde auch heftig über Wechselkurse, das Malteser Pfund und die gesetzliche Vorschrift diskutiert, alle Transaktionen auf Papier festzuhalten. Und das kostenlose Büfett im Speisesaal ließ man zugunsten eines dicken, saftigen Steaks, Kumpel – gut durchgebraten, wenig Knorpel links liegen. Außerdem wurde Mineralwasser gleich kastenweise geordert: Ich muss mich schon den ganzen Tag übergeben. Liegt bestimmt am Salatdressing. Selbst europäische Pokerturnier- Bestimmungen hatte man bereits zugunsten der in Vegas üblichen Regeln aufgegeben – und die wenigen Malteser, die den Mut aufgebracht hatten, in ihrem eigenen Casino ein kleines Spielchen zu wagen, befanden sich ebenfalls auf dem Rückzug:
Soeben war eine Gruppe im Smoking an einem Blackjack-Tisch von einem
US-Edelzocker in Trainingsanzug und Turnschuhen vertrieben worden, der für 1 000 Dollar pro Hand alle Plätze selbst spielen wollte. Das war auch der Moment, in dem der Regen durch das Dach tropfte. Das Dragonara Casino in der kleinen Stadt St. Julian’s war vor über einem Jahrhundert als Sommerpalast des maltesischen Fürsten Marquis Scicluna erbaut worden, zur Feier seiner Ernennung zum päpstlichen Ritter. An drei Seiten vom Mittelmeer umgeben, dienten seine von kannelierten griechischen Säulen und prunkvollen Ziergiebeln geschmückten Räumlichkeiten im 19. Jahrhundert als Stätte stilvoller Sommerfeste. Doch das Gebäude war nie für die Ausrichtung winterlicher Pokerturniere konzipiert worden, und nun, nach rund einem Jahrhundert, hielt auch sein flaches Steindach dem maltesischen Regen nicht mehr stand.
Hey, was zum …, jaulte der Ami auf, als eine kräftige Portion Regenwasser zusammen mit einem großen Stück Deckenputz auf seiner dritten Blackjack-Hand landete – zwei knackige Damen, gegenüber der mickrigen Kreuz-Acht des Dealers. Seine maltesischen Gastgeber waren derartige Notfälle aber anscheinend gewöhnt: Ohne ein Wort zu verlieren, hoben drei kräftige Männer im Smoking den Tisch schlichtweg an und trugen ihn zwei Meter nach links. Dann kehrten sie müde zu dem Edelzocker zurück, der stumm und verblüfft sitzen geblieben war, hoben ihn mitsamt Stuhl hoch und beförderten ihn an seinen umgesiedelten Tisch – alles mit einem starren, geduldigen Lächeln auf dem Gesicht, das verkündete, dass sie das alles schon tausendmal erlebt hatten.
Sir?, erkundigte sich der Dealer, der es ohne fremde Hilfe zu seiner neuen Position geschafft hatte. Glaubst du etwa, ich will bei zwei Damen noch ziehen?, brüllte der Amerikaner, als kenne die Unverschämtheit auf Malta keine Grenzen. Über dem Eingang zum Casino prangte in Stein gemeißelt – und zweifellos aus der Zeit nach den Sommerfesten des päpstlichen Ritters stammend – die lateinische Inschrift DEUS NOBIS HAEC OTIA FECIT. Wie standen wohl die Quoten darauf, dass ich der einzige Pokerprofi der Welt mit humanistischer Schulbildung war? Ohne irgendwelche Wetten abzuschließen, bot ich zunächst eine wörtliche Übersetzung an – Gott hat uns diese Muße beschert – und legte dann noch eine amerikanische Version nach: Glücksspiel ist die Erfindung des Herrn.
Dieser Satz fand allgemein Anklang, außer bei den Casino-angestellten, die normalerweise mehr über den Spielbetrieb wissen als ihre Kunden, und den geduldig leidenden Angestellten des angrenzenden Dragonara Hotel, die offensichtlich äußerst regelmäßige Öffnungszeiten gewohnt waren. Sogar die in den Reihen der weitbesten Pokerspieler erstaunlich zahlreich vertretenen wiedergeborenen Christen sind daran gewöhnt, um vier Uhr in der Frühe Pastrami auf Roggenbrot bestellen zu können – ganz gleich, wo auf der Welt sie sich befinden.
Aus Gründen, die niemand schlüssig erklären kann, ist Poker im Grunde Nachtarbeit. Ich meine damit, dass es sich merkwürdig anfühlt, Poker bei Tageslicht zu spielen. Profis im Ausland, die der Zeitlosigkeit von Las Vegas beraubt und nicht daran gewöhnt sind, dass ein Casino bei Tagesanbruch schließt, machen es sich daher zur Regel, nachts zu spielen und tagsüber zu schlafen – was eine interessante sozialmedizinische Konsequenz zur Folge hat: Man hört nur ganz selten Pokerprofis über Jetlag klagen.
Die Malteser hingegen sind Besucher nicht gewohnt, die ihre Sonne ignorieren – schon gar nicht im November, wenn dieser wunderbare Anblick den einzig denkbaren Grund für einen Besuch auf ihrer Insel darstellt (die mich ansonsten an eine riesige, stillgelegte Flugzeughalle aus dem Zweiten Weltkrieg erinnerte). Das Dragonara hatte daher keine Vorkehrungen für die Bestellung von Blaubeerpfannkuchen zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens getroffen.
Da diese Tageszeit jedoch zu den wenigen Momenten zählt, in denen amerikanische Glücksspieler das Bedürfnis nach einer solchen Stärkung verspüren, hatten viele von ihnen bereits aus dem Dragonara ausgecheckt und nutzten ihr Monopolygeld dazu, sich Schrottkarren zu mieten und hurtig das vertraute Ambiente des etwas weiter entfernt liegenden Hilton aufzusuchen. Dort nämlich verursachten Waffeln am frühen Morgen kein Stirnrunzeln. Die Briten blieben dagegen, wo sie waren – zum Teil deshalb, weil sie im Dragonara auch mittags noch Speck, Eier und Pommes frites bekommen konnten, zum Teil aber auch, weil der Aufenthalt dort erheblich günstiger war.
Darüber hinaus hatten die Einheimischen auch nicht voraus-geahnt, dass jemand erwarten würde, der Sugar-Ray-Leonard- Kampf werde via Satellit aus Las Vegas übertragen – für die angereisten Amerikaner ein Ereignis von weit größerer Trag-weite als ihre am nächsten Tag anstehenden Präsidentschaftswahlen. Und gemäß ihrer Neuen-Welt-Naivität erwarteten diese Gäste sogar, dass das Telefon funktionierte. Ein beleibter, schwitzender Amerikaner hatte offensichtlich die Nase voll vom Essen, dem Wetter und der Tatsache, dass das Casino erst um 18.00 Uhr öffnete und es den ganzen Tag über nichts zu tun gab – ganz zu schweigen von den Blättern, die er auf die Hand bekam. Hey, Kumpel, winkte er einen vorbeieilenden Kellner heran, wie lautet die gebührenfreie Servicenummer von Air Malta?
Derlei geballte und im Kolonialstil zur Schau gestellte Blauäugigkeit entlockte den Europäern meist ein breites Grinsen. Erstens: Selbst wenn die Leute hier in der Gegend gewusst hätten, was eine gebührenfreie Servicenummer ist, hätten die Telefone im Hotel trotzdem nicht funktioniert – vom Rest der Insel gar nicht erst zu reden. Zweitens: Kam dann doch mal eine Verbindung zustande, musste man schon bald feststellen, dass Air Malta nicht die schnellste aller Fluggesellschaften war, wenn es darum ging, einen Telefonhörer abzunehmen. Tatsächlich war es einfacher, sich ein Auto zu mieten und zum Flughafen zu fahren, vorausgesetzt, man hatte vorab die begrenzten Öffnungszeiten des Schalters gecheckt. Immerhin hatte eine Reihe von Leuten das an diesem Tag schon frühmorgens getan – nur um dann feststellen zu müssen, dass sämtliche Flüge der nächsten Woche ausgebucht waren.
Es gab keine freien Plätze mehr, nicht einmal First Class. Wir hingen hier alle fest.
Rühr das Wasser hier nicht an, Tony, mahnte eine vertraute Stimme hinter mir. Und nimm das Eis aus deinem Gin Tonic. Ich hab Dünnschiss, seit ich hier angekommen bin. Roy Houghton, der Manager des Kartensaals im Barracuda, war als Beobachter nach Malta gekommen; er verbrachte den Tag auf dem Tennisplatz und machte sich abends mit der Organisation eines solchen Turniers vertraut. Das Barracuda plante die Ausrichtung einer Turnierserie, deren Höhepunkt ein jährlich aus-getragener All-England-Grand-Prix sein sollte. Aber war das hier wirklich der geeignete Ort, um derartige Erfahrungen zu sammeln?
Terry Rogers, Irlands führender Buchmacher und ein beliebter Veteran des internationalen Pokerzirkus, hatte sein halb-jährlich stattfindendes
Irish-Eccentrics-Turnier nach Malta verlegt, das am nächsten Abend ausgetragen werden sollte. Während wir darauf warteten, dass die amerikanische Delegation uns nach dem Essen mit ihrer Anwesenheit beehren würde, vertrieb er sich fürs Erste die Zeit damit, sämtlichen Ankömmlingen das Regelwerk zu erläutern. Hochgradig verärgert über die Rücksichtslosigkeit, mit der die Amerikaner die Veranstaltung übernommen hatten, bewies Terry besten irischen Starrsinn, indem er eine Liste mit zwölf festen Regeln bekannt gab, die alle in bewusstem Gegensatz zu den amerikanischen Gepflogenheiten standen. Zur Verblüffung der maltesischen Roulettespieler verlas er die gesamte Ankündigung über Lautsprecher. Die letzte Regel lautete: Terry Rogers’ Entscheidung ist endgültig, selbst wenn sie falsch ist.
Gegen 22.30 Uhr – ich stand am Büfett, hatte sorgfältig das Eis aus meiner Killer-Coke geklaubt und knabberte gerade vorsichtig an einer Scheibe kostenlosem Brot, nachdem mich ein Norweger im Vorbeigehen vor dem Hühnchen gewarnt hatte – bedeutete die Ankunft der amerikanischen Abordnung, dass die Action endlich beginnen konnte. Wie sich herausstellte, waren zu wenige Spieler anwesend, um ein Satellitenturnier zu starten. Das Buy-in, also die Turniergebühr für den heutigen Abend, würde mich daher 500 der 2 500 Dollar kosten, die ich für diese Reise eingeplant hatte – vermutlich gerade mal ein Zehntel des nächsthöheren Spielkapitals aller anderen Profis vor Ort. Doch ich hatte es für klüger gehalten, das Ganze vorsichtig anzugehen, und den Großteil meines Geldes zu Hause gelassen; bis zur World Series war es ein langer Weg, und ich musste erst noch meinen Platz in der Profiliga finden.
An jenem Abend waren sechzig Teilnehmer gemeldet, was einem Preisgeld von 30 000 Dollar entsprach. Ein Sitz am Finaltisch und eine Platzierung unter den ersten Neun würden mich auf die Gewinnerstraße bringen. Doch die Vorzeichen für meinen ersten internationalen Auftritt als Profi standen nicht allzu gut: Zu meiner Bestürzung wurde ich an einen Tisch mit zwei ehemaligen Weltmeistern gelost. Ihr flüchtiges Nicken verriet mir, dass sie mich schon einmal irgendwo gesehen hatten, sich aber beim besten Willen nicht mehr an meinen Namen erinnern konnten. Eric Draches verspätetes Eintreffen bewahrte mich vor der Peinlichkeit einer erneuten gegenseitigen Vorstellung: Er begrüßte mich so wohltuend vertraut, als sei mein Erscheinen auf der internationalen Pokerszene nur eine Frage der Zeit gewesen und als hätten wir uns erst vor wenigen Stunden zum letzten Mal getroffen – und nicht vor sechs Monaten und fünfzehntausend Kilometer entfernt. Hey, Tony, gerade angekommen? Wie läuft’s denn so?
Das Spiel plätscherte halbherzig vor sich hin, da die Spätankömmlinge mit banger Miene erst einmal darauf warteten, dass sich ihr Essen ohne böse Folgen setzte. Nach einer halben Stunde begann dann mein Magen zu grummeln, als ich ein Paar Könige auf die Hand bekam und ein Ex-Weltmeister meinen Einsatz brachte, nämlich Gentleman Jack Keller. Alle anderen am Tisch stiegen aus, so dass ich beschloss, aufs Ganze zu gehen und den Einsatz so weit zu erhöhen, dass Keller seine restlichen Chips in die Tischmitte schieben musste, wenn er mitgehen wollte. Scheinbar seelenruhig ging er All-in. Hast du ein Paar?, fragte er, als der Flop K-3-2 brachte – ausreichend Bestätigung dafür, dass ich mittlerweile die Gewinnerhand hielt, selbst wenn er mit einem Paar Asse begonnen hatte. Sein gesamtes Geld lag in der Mitte, so dass es keine weiteren Einsätze geben würde.
Mir stand es frei, mein Blatt zu zeigen. Jetzt wirkte Keller in meinen Augen besorgt. Vielleicht vermutete er, ich könne einen König haben oder sogar zwei, vielleicht schätzte er mich aber auch auf A-K ein. Egal. Ich schrieb ihm ein Paar Damen oder Buben zu und wartete unerbittlich, bis der Dealer die letzten beiden Karten aufgedeckt hatte, die keine Möglichkeiten auf Straße oder Flush boten, bevor ich meine beiden Könige zeigte. Resigniert drehte Keller zwei Damen in der Luft um und ließ sie auf den Tisch fallen. Dabei starrte er mit dem typischen Blick eines Spitzenspielers auf den grünen Filz hinunter, der es nicht fassen kann, dass ihn ein Amateur aus dem Spiel genommen hat. Eric grinste übers ganze Gesicht und empfand ehrliche Freude über meinen kurzen Moment des Triumphs. Soso, Tony, meinte er, die Maus frisst heute Abend also die Katze?
Hast du es noch nicht gehört, Eric?, fragte ich und achtete darauf, beim Einstreichen des Pots meine Karo-König-Uhr aufblitzen zu lassen. Ich bin vor kurzem Profi geworden. Wir wussten beide, dass sich diese Bemerkung an die anderen Spieler am Tisch richtete, die keine Ahnung hatten, wer ich war oder ob das ein Witz sein sollte. Profi, was?, meinte einer von ihnen. Mit so einem Blatt kann ich auch Profi werden. Erics Blick bedeutete mir, ich solle nicht darauf eingehen. Doch es war der erste große Augenblick meiner neuen Karriere, und ich konnte nicht widerstehen, mein Glück herauszufordern. Tja, sagte ich zu niemandem im Besonderen, während ich meine Chips zu wunderhübschen Wolkenkratzern stapelte. So eine Chance muss man aber erst mal nutzen!
Daraufhin breitete sich eine gefährliche Stille am Tisch aus. Aber ich fühlte mich nun zuversichtlicher – vielleicht etwas zu zuversichtlich, denn ein unbedarftes Mitgehen führte dazu, dass ich schon bald einen großen Teil der Keller-Tausender wieder los war. Nachdem ich diese Lektion gelernt hatte, spielte ich danach so verhalten weiter, dass ich die Pause lebend erreichte, während sich die Hälfte der Teilnehmer verabschieden musste (darunter Eric und so viele andere Edelzocker, dass sie ein beunruhigend teures Sidegame – eine Pokerrunde an einem der Nebentische des Turniers – eröffnen konnten). Zur Feier des Tages riskierte ich den Verzehr eines Tellers Rote Bete und Zwiebeln. Eine weitere Coke hellte meine zuversichtliche Stimmung noch mehr auf, obwohl ich beim Trinken geistesabwesend ein Stückchen eines Eiswürfels hinunterschluckte.
Gegen zwei Uhr früh, als sich das Feld bis auf zwei Tische gelichtet hatte, gehörte ich zu den letzten beiden Briten im Turnier; dazu kamen sechzehn Amerikaner, Skandinavier und Deutsche. Doch mein Chipstapel schrumpfte rasch zusammen, und die Einsätze stiegen. Die Berechnung der Quoten beim Texas Hold’em ist einfacher als bei den meisten anderen Pokervarianten, doch ich verwendete nach wie vor zu viel geistige Energie darauf. Mein grundlegendes System besteht darin herauszufinden, wie viele Karten das eigene Blatt verbessern können, und diese Anzahl dann durch die Zahl der restlichen Karten im Stapel zu teilen. Hat man beispielsweise nach dem Flop vier Karten zu einem Herz Flush auf der Hand, hat man insgesamt fünf Karten gesehen (die eigenen Bunkerkarten plus die drei Karten auf dem Tisch). Unter den siebenundvierzig ungesehenen Karten befinden sich neun von Herz, die den Flush vervollständigen könnten. Die Flush-Chance liegt daher bei 9 : 38, was auf eine Quote von 1 : 4 hinausläuft – und bedeutet, dass man etwa bei jedem vierten Versuch seinen Flush zusammenbekommt.
Das kompliziertere, von den Profis benutzte System verbessert diese Quoten sogar noch. So rechnen Poker-Schlauköpfe vor, dass ein Ass mit gleichfarbiger Beikarte (suited) mit einer Wahrscheinlichkeit von 34,97 Prozent auf der fünften Karte (dem River) zum Flush wird – was die Quote auf 1; 1,86 verbessert. Nimmt man die drei noch verfügbaren Asse hinzu, die zusammen mit dem eigenen Ass ebenfalls eine starke Hand ergeben könnten, steigen die Gewinnchancen natürlich noch weiter. Ich habe zahllose langwierige Auseinandersetzungen miterlebt, meistens ausgetragen auf der Rückseite ausgedienter Umschläge, die sich ausschließlich um die Frage drehten, wie sich die Quoten zwischen vierter Karte (Turn) und fünfter Karte (River) verändern. Natürlich sind die Gewinnchancen bei zwei noch ausstehenden Karten besser als bei nur einer, doch es wäre viel zu einfach, die Chancen lediglich zu halbieren oder zu verdoppeln. Es genügt wohl, wenn ich sage, dass meine Methode – die mir eine magere Quote von 1 : 4,875 auf das Zustandekommen einer beidseitig offenen Straße einräumt und nur eine 1 : 8,25-Quote darauf, dass aus zwei Paaren ein Full House
wird – unangebracht pessimistisch ist.
Was mir aber nur Recht sein konnte: Wenn man sich in unbekanntes Terrain vorwagt, ist Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. Für erfahrene Profis sind Prozentwerte zweitrangig; für mich als Neuling, der dazu nie ein besonderes Talent im Kopfrechnen war, wurden sie rasch zu einer qualvollen Ablenkung. Die Besten der Besten können einem jederzeit sagen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, eine bestimmte stärkere Hand nicht ausgeteilt zu bekommen – und sie kennen selbstverständlich auch die Quoten auf die mögliche Verbesserung des eigenen Blatts im Verlauf einer Hand. Was mich betraf, hatte ich diese Zahlen im Anhang diverser Handbücher gesehen, in Form unverdaulicher Prozenttabellen, und hatte daraus gelernt, dass ein hohes Paar verdammt gut war und dass A-K in der gleichen Farbe eine erhebliche Zurschaustellung von Stärke vor dem Flop erforderte.
Noch nicht herausbekommen hatte ich dagegen, wie man solche Blätter auf die Hand bekam. Indem ich bei meinem Spiel mehr aufs Bauchgefühl denn auf höhere Mathematik setzte, flog ich schließlich als Vierzehnter raus – fünf Plätze vom Preisgeld entfernt, aber viel besser, als ich es bei meinem ersten Profiturnier erwartet hätte. Wenn ich diese Handbücher also richtig durchbüffelte, hatte ich durchaus eine Chance. Zu müde und schüchtern, um bei den Sidegames mitzumachen, begnügte ich mich damit, meine Teilnahmegebühr beim Blackjack zurückzugewinnen. Danach schlenderte ich durch die herrliche maltesische Nacht zurück zu meinem Hotelzimmer. Nachdenklich betrachtete ich noch eine Weile vom Balkon aus die wogenden Wellen, dachte daran, dass ich an der Küste auf-gewachsen war, und fragte mich, was meine Eltern wohl von einem jüngeren Sohn halten würden, der professioneller Pokerspieler geworden war. Zweifellos würden sie ihr Vertrauen ihrem älteren Sohn aussprechen, dem Steuerberater, der sich so gewissenhaft um das Geld anderer Leute kümmerte, als wäre es sein eigenes.
Ich vermisste die Puppe wie verrückt, las die ganze Nacht hindurch und verschlief den Tag, bis irgendein maltesisches Elektronikwunder geschah und das Telefon meine unruhigen Träume störte. Hey, Tony, Eric Drache hier. Das war ein guter Auftritt gestern Abend. Hast du Lust, was essen zu gehen? Im großen bunten Heer der professionellen Pokerspieler ist Eric Drache eine Klasse für sich – und das sieht man bereits auf den ersten Blick. Zunächst einmal kleidet er sich ziemlich elegant, also eher im Wall-Street- als im Westernstil, während das Gros seiner Pokerkollegen die lässige, bequeme und meist schludrige Kleidung der ehemaligen Hippie-Generation bevorzugt. Dazu trägt er immer noch den Topfschnitt der Beatles, wie in den guten, alten Sechzigern. Er ist mit einer feinen englischen Dame verheiratet, der Tochter eines pensionierten Obersts aus Devon, den er gerne auf seinen Touren durch die Pubs von Crediton begleitet.
Während Eric überall zwischen Las Vegas und Malta Poker spielt, hat Jane drei Universitätsabschlüsse gemacht und arbeitet heute in der AIDS-Forschung in San Francisco. Und natürlich ist auch sie ein Ass im Pokern. Drache ist ein kultivierter Kosmopolit mit einem Sinn für gutes Essen und erlesene Weine. Er reiste schon um die Welt, bevor das Pokern ihm einen Grund dazu lieferte – immer im Stil eines Mannes, für den Bargeld nur eines von vielen Bedarfsgütern ist. Eric fliegt ausschließlich First Class, steigt nur in Fünf- Sterne-Hotels ab und spült seine Mahlzeiten mit dem besten Wein hinunter, den der Keller hergibt, gefolgt von einer Reihe exotischer Spirituosen. Nichtsdestotrotz ist er kein Materialist; sein Haus in Las Vegas wirkt erstaunlich bescheiden, er kauft keine sündhaft teuren Dinge, höchstens als Geschenk, und habgierig ist er nur, wenn es um Pokerpötte geht. Dazu kommt seine natürliche Großzügigkeit:
Egal, ob er gerade vorn oder hinten liegt und wie sich sein Spielkapital von einem Tag zum anderen entwickelt – und die Schwankungen können heftig sein man darf sicher sein, dass er jeden Cent, den er besitzt, entweder ausgibt oder riskiert. Wie alle
Top-Pokerspieler achtet Eric auf einen gesunden psychologischen Abstand zwischen seinen Berechnungen am Tisch und seiner aktuellen Finanzlage im richtigen Leben. Eine typische Drache-Anekdote handelt von einem Abend, an dem ein solches Dilemma von einem dringenden Anruf seiner Frau unterbrochen wurde, die gerade in einen Verkehrsunfall verwickelt worden war.
Bist du verletzt?, fragte Eric. Nein, sagte Jane. Ist sonst jemand verletzt worden? Nein.
Na, dann ist ja alles in Ordnung. Aber ich habe einen Schaden von 1 500 Dollar am Wagen verursacht. Dann ruf die Versicherung an. 1 500 Dollar Schaden an unserem wunderschönen Jaguar! Schatz, ich liege in diesem Moment vier wunderschöne Jaguars hinten. Ruf die Versicherung an.
Eric erblickte 1 943 in Brooklyn das Licht der Welt und wuchs in Carlstadt, New Jersey, auf, wo er schon in frühen Jahren neben Laufen und Sprechen auch den Umgang mit Glücksspielen erlernte. Als Kleinkind spielte er mit Murmeln und um Baseballkarten, und bereits mit zehn Jahren pokerte er um Pennys. Sein Vater war ein großer Pferdewetter gewesen, hatte die Familie aber verlassen und konnte daher dem jungen Eric nicht mehr beibringen, dass es sich beim Poker um ein Spiel handelt, welches sehr viel Geschick erfordert. Daher spielte Eric jede Hand wie ein Duell, ohne Beziehung zu den anderen Blättern am Tisch … Ich spielte gegen offene Asse, ohne auch nur ein Paar oder eine Flush-Chance auf der Hand … Ich spielte einfach. Mit der Präzision eines Uhrwerks verlor er jahrelang jede Woche sein Taschengeld.