Meine Erfahrung und Strategien auf den Weltpoker Tischen Teil I – the big one
Harte Zeiten machen dich härter, hätte Benny Binion auf die Frage nach seiner Gefängnisstrafe wegen Steuerhinterziehung geantwortet, die irgendwo tief in seiner 83-jähri- gen Vergangenheit vergraben lag. Am Ende seines langen Lebens war Binion ein Mann von solcher Macht und solchem Ansehen in Vegas, dass man ihm mit einer Reiterstatue vor dem Casino, das seinen Namen trägt, ein Denkmal setzte und eine Kampagne ins Leben rief mit dem Ziel, beim Präsidenten einen Straferlass für seine Jugendsünden zu erwirken.
Da es mit Bennys Gesundheit seit langem bergab ging, wollten seine Freunde und Bewunderer dafür sorgen, dass er diese Welt mit einer sauberen Strafakte verließ. Doch Präsident Reagan, der damals Straferlässe verteilte wie andere Leute Visitenkarten, ließ sich nicht erweichen. Ich werde ihn überleben, sagte Benny, als er vom Nein des Präsidenten erfuhr, und dann tanze ich auf seinem Grab. Doch dieses eine Mal hatte Benny sein Blatt überschätzt. Als er am Weihnachtstag 1 989 starb, stand Reagan gerade erst am Anfang des zehnten seiner neun Leben. Vielleicht hatte er ja immer sauber gelebt.
Man schrieb das Jahr 1 946 – das Jahr, pflegte Binion zu sagen, in dem mein Sheriff die Wahlen verlor -, als es für Benny Binion Zeit wurde, seiner Heimatstadt Dallas den Rücken zu kehren. In seiner Polizeiakte standen Anklagen wegen Diebstahls, illegalen Waffenbesitzes, Schwarzbrennerei und Glücksspiels; außerdem hatte er zwei Männer getötet, in beiden Fällen aber erfolgreich auf Notwehr plädiert. Als Sohn eines bettelarmen Rancharbeiters machte Benny sein erstes Geld als Westentaschen-Schnapsbrenner, der flaschenweise illegalen Schnaps verkaufte. Mitte der dreißiger Jahre, nach dem Ende der Prohibition, wurde aus ihm so was wie der Zockerkönig der Gegend.
Aber Glücksspiel war in Dallas damals so was wie illegal (und ist es bis heute). Also zog es Benny, als er 1946 die Stadt in aller Eile verlassen musste, wie selbstverständlich in Richtung Nevada – damals der einzige US-Bundesstaat, in dem das Glücksspiel legalisiert worden war. Er kaufte das heruntergekommene Eldorado Hotel and Casino, nannte es um in Binion’s Horseshoe und hängte ein Schild über den Eingang mit der Aufschrift DIE HÖCHSTEN LIMITS DER WELT. Damit lockte er die Spieler in Scharen nach Downtown Las Vegas – wo sie bis heute geblieben sind.
Drei Jahre später kam ein legendärer Spieler namens Nick the Greek Dandalos in die Stadt, auf der Suche nach einer Partie Poker. Und zwar nicht irgendeiner Partie: Ganz wie es seinem Ruf entsprach, wollte Nick der Grieche Heads up spielen, also nur gegen einen Gegner; es sollte eine Freezeout-Partie sein, bei der der Gewinner alles bekam, und er wollte ohne Limit spielen. Mit anderen Worten, er wollte bei Binion das größte Spiel spielen, dass diese Welt zu bieten hat. Damals, 1 949, konnte man in Vegas – zumindest in den regulären Casinos – ausschließlich mit Limit, also mit festgelegten Maximaleinsätzen pokern, was an den teuersten Tischen auf etwa sechzig Dollar pro Einsatz hinauslief. Kein Wunder also, dass der Grieche niemanden fand, der sich zu seinen Bedingungen auf ein Spielchen einließ.
Aber Benny Binion kannte genau den Richtigen. Also bot er dem Griechen an, die Pokerpartie in seinem Casino zu veranstalten und ihm einen würdigen Gegner an den Tisch zu holen – falls dieser sich einverstanden erklärte, in aller Öffentlichkeit im Horseshoe zu spielen. Nick sagte zu, und Binion griff zum Telefon und rief seinen alten Kumpel Johnny Moss an, den er schon aus Kindertagen in Texas kannte. Obwohl er noch nie in Vegas gewesen war und sich nach einer viertägigen Nonstop-Pokerpartie ein wenig erschöpft fühlte, machte Moss sich sofort von Dallas aus auf den Weg. Als er nach einer langen, ermüdenden Reise endlich im Horseshoe eintraf, schüttelte er dem Griechen kurz die Hand, und die beiden kamen sofort zur Sache.
Der Legende nach dauerte das Spiel fünf Monate. Und wie Benny Binion gehofft hatte, standen die Zuschauer in Sechser-reihen um den Tisch, völlig fasziniert von der Kaltblütigkeit und der Ausdauer dieser beiden Pokertitanen und von den Riesensummen, die den Besitzer wechselten. Und die Dollars, die dieselben Zuschauer danach in seinem Casino ließen, bildeten den Grundstock für Binions späteres Vermögen. Ab und zu beteiligten sich auch andere Spieler am Kampf der Giganten; sie wurden allerdings nur dann am Tisch geduldet, wenn sie bereit waren, mindestens 10 000 Dollar Einsatz zu bringen, eine beträchtliche Summe so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch diese gewöhnlichen Sterblichen waren meist nach einem oder zwei Tagen völlig erschöpft, während Moss und der Grieche einander bestenfalls ein kleines Lächeln zuwarfen und sie einen nach dem anderen ausnahmen.
Die beiden Hauptakteure konnten vier oder fünf Tage ununterbrochen Poker spielen, ehe sie sich auf eine Pause einigten. Und obwohl Moss mit zweiundvierzig Jahren jünger war als der Grieche, der damals Ende fünfzig gewesen sein muss, brauchte er diese Erholungspausen nötiger als sein älterer Gegner. Wenn er nach zehn oder mehr Stunden Schlaf in den Spielsaal zurückkam, hockte Dandalos schon längst wieder im Casino und vertrieb sich die Zeit beim Würfeln. Was machst du die ganze Zeit?, begrüßte Nick der Grieche ihn dann gern. Dein Leben verschlafen?
Auch wenn solches Geplänkel hauptsächlich dazu dienen sollte, den unbarmherzigen Siegeswillen beider Männer zu verbergen, so war es auch ein Zeichen für den gegenseitigen Respekt und die unendliche Höflichkeit, die für das Pokerspiel auf bestem und höchstem Niveau typisch sind. Und dies setzte sich bis zuletzt fort, bis zu jenem klassischen Satz, der das Ende der Partie bedeutete. Nachdem Dandalos eine letzte, entscheidende Hand verloren hatte, stand er auf und sagte nur: Mister Moss, ich muss Sie gehen lassen.
Niemand weiß es genau, und Mister Moss hat es bis heute nicht verraten, aber angeblich verlor der Grieche im Verlauf dieser Partie mindestens zwei Millionen Dollar. Selbst vierzig Jahre danach erzählt Moss noch gern von einer berühmten Hand beim Five-Card Stud, die er als den Wendepunkt der Partie betrachtete. Bei einem Grundeinsatz von 100 Dollar pro Spieler lagen 200 Dollar im Pot, als er eine verdeckte Neun und eine offene Sechs bekam. Die offene Karte des Griechen war eine Acht. Beim Stud Poker muss die niedrigere Hand immer den ersten Einsatz bringen. In seinem trägem Texas-Akzent erzählt Moss weiter: Niedrige Hand bringt. Also setz’ ich zweihundert mit ’ner Sechs, und er erhöht auf fünfzehnhundert oder zwei Riesen. Ich geh’ mit. Nächste Karte kommt, ich krieg’ ’ne Neun und er ’ne Sechs. Damit hab ich zwei Neunen und lieg’vorn. Ich hau’ ordentlich was auf den Tisch, so um die Fünftausend, und er geht sofort hoch drüber, bestimmt mit fünfundzwanzig Riesen. Ich geh’ wieder nur mit, will ihn nicht verscheuchen – schließlich bin ich auf seine ganze Kohle scharf.
Nächste Karte kommt, er kriegt ’ne Drei und ich ’ne Zwei. Also hat er nichts auf dem Tisch, was meine beiden Neuner schlägt. Ich schiebe, um ihn reinzulegen, und er setzt, genauso wie ich’s gehofft hab’. Also erhöh’ ich bis ganz weit hinten gegen, er geht mit, und ich hab’ ihn genau da, wo ich ihn haben will. Hundert Riesen liegen auf dem Tisch, vielleicht sogar noch was mehr, und die stecken schon so gut wie in meiner Tasche.
Johnnys letzte Karte war eine Drei, Nick bekam einen Buben. Also lagen vor Moss 6-9-2-3 auf dem Tisch, während die Hand des Griechen 8-6-3-J zeigte. Da Moss die verdeckte Neun hielt, gab es nur eine Karte, mit der Dandalos ihn schlagen konnte – ein weiterer Bube. Vielleicht nahm der Grieche aber auch an, dass Moss gar kein Paar hatte und dass sein offener Bube auf dem Tisch ausreichte, um sich den Pot zu sichern. Sein Bube ist hoch, und er setzt nochmal fünfzigtausend.
Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er ’nen Buben hält, sonst hätte er all das Geld nur für die Chance hingeblättert, mich auszukaufen. Mir isses egal, was er hat – erst mal muss er meine Neunen schlagen. Also gehe ich mit allem Baren rein, was ich noch hab’. Wenn der Grieche jetzt mitging, würde der Pot auf eine halbe Million Dollar anschwellen. Dandalos saß eine Weile schweigend da und grübelte offensichtlich über die enorme Höhe von Moss’ Einsatz und die naheliegende Vermutung, dass Johnny ein Paar – irgendein Paar – hatte und damit stärker war als sein einsamer Bube. Irgendwann sagte er: Mister Moss, wissen Sie was? Ich habe einen Buben hier liegen.
Wenn du tatsächlich ’nen Buben hast, Grieche, erwiderte Moss, dann dürfte ja ein verdammt großer Pot auf dich warten. Es entstand eine lange, quälende Stille. Dann schob der Grieche sein gesamtes Geld in die Mitte des Tischs und drehte seine Handkarte um – den Karo Buben. Er hatte mich ausgekauft, erinnert Moss sich. Im Pot lagen gut zweihundertfünfzig Riesen von jedem von uns, und er hat sie sich geholt. Aber das war okay. Das war sogar besser als okay. Denn da wusste ich: Wenn er verrückt genug ist, solchen Hirngespinsten nachzujagen, werde ich ihn am Ende kriegen.
Und genau das tat er. Der Dandalos-Moss-Marathon, über den selbst heute noch in Pokerkreisen weit jenseits des Horseshoe geredet wird, ist als die größte und beste Partie aller Zeiten in die Geschichte des Pokerns eingegangen. Danach hat es nie wieder etwas Vergleichbares gegeben – und schon gar nicht in den ersten zwanzig Jahren nach diesem Kampf der Titanen. Erst 1 970 versuchte Benny Binion, einen ähnlichen Wettbewerb auf die Beine zu stellen, indem er die besten Pokerspieler der Welt einlud, im Horseshoe in aller Öffentlichkeit gegeneinander anzutreten. Der Sieger sollte den Weltmeistertitel erhalten. Bei diesem Turnier traten die Teilnehmer in verschiedenen Pokervarianten gegeneinander an; sie konnten die Höhe der Einsätze selbst bestimmen, und der Titel würde an den beständigsten Spieler in allen Partien gehen – an den besten Allrounder.
Nach einer Woche erbitterten Wettkampfs warfen die anderen sechs Pokerprofis ihre Karten auf den Tisch und wählten Johnny Moss – der fortan den Spitznamen The Grand Old Man trug – ein-stimmig zum ersten offiziellen Pokerweltmeister. Und damit war die World Series of Poker aus der Taufe gehoben. Moss gewann den Titel auch im darauf folgenden Jahr – dieses Mal durch einen Sieg und nicht per Akklamation – und erneut 1 974, nachdem er seine Krone vorübergehend zweien seiner schillerndsten Konkurrenten hatte überlassen müssen, Amarillo Slim Preston und Walter Clyde Puggy Pearson. 1975 schnappte sich ein weiterer Oldtimer, Brian Sailor Roberts, den Titel, ehe er die Fackel für zwei Jahre in Folge an den besten Spieler der nachfolgenden Generation weiterreichte, Doyle Texas Dolly Brunson. Im darauf folgenden Jahrzehnt gewann die World Series deutlich an Ruhm und Bedeutung, wobei die höchste Auszeichnung jedes Jahr an einen anderen Spieler aus der Riege der Top-Profis ging. Bis 1 988 gelang nur einem einzigen weiteren Spieler die Titelverteidigung: Stu the Kid Ungar holte sich die Krone 1 980 und 1 981. Als die World Series des Jahres 1 988 begann, räumte man dem amtierenden Weltmeister, Johnny Chan, gute Chancen ein, mit Ungar gleichzuziehen. Doch immer noch hatte es niemand geschafft, Johnny Moss nachzueifern und dreimal die Weltmeisterschaft zu gewinnen.
Der inzwischen achtzig Jahre alte Moss ist nach wie vor ein phantastischer
Allround-Spieler, der seine Gegner vor allem durch eine unheimliche Fähigkeit zermürbt: Er scheint zu lesen, welche Karten sie auf der Hand haben, indem er den Aus-druck auf ihrem Gesicht und ihre Körpersprache studiert und ihr Wettmuster analysiert. Und genau deshalb ist er einer der herausragendsten Spieler des
No-Limit-Poker, wo es bei den Einsätzen viel mehr auf Psychologie als auf Strategie ankommt und wo die eigentlichen Karten eine eher untergeordnete Rolle spielen. Ein Narr, wer glaubt, dass Moss aufgrund seines hohen Alters am Tisch eingeschlafen wäre; selbst in jungen Jahren konnte er durch seine kaum sichtbaren Augen, mit Lidern so schwer wie die einer Echse, den Eindruck erwecken, er sei im Verlauf einer Partie eingenickt.
Im Laufe der Jahre ist diese vorschnelle Fehleinschätzung viele Trottel teuer zu stehen gekommen – wenn nämlich ein Einsatz gegen den offenbar unachtsamen Moss mit einer gnadenlos effektiven Erhöhung beantwortet wurde. Bis heute tritt Moss jedes Jahr im Horseshoe an und gewinnt regelmäßig einen der World-Series-Titel – wobei er meist an mehr als nur einem Finaltisch sitzt und bemerkenswert häufig auf den vorderen Rängen des eigentlichen Weltmeisterschaftsturniers auftaucht. In diesem Jahr hatte er sich bereits den Titel im Lowball-Turnier geholt und sozusagen seinen zweiundsechzigsten Hochzeitstag mit seiner Frau Virgie (die wie immer treu an seiner Seite zu finden war) damit gefeiert, dass er 193 jüngere Teilnehmer hinter sich ließ und für den ersten Platz die Rekordsumme von 116 400 Dollar kassierte.
Auf den Tag genau zweiundsechzig Jahre zuvor – so wusste ich von Virgie – war Moss am Abend ihrer Hochzeit unweigerlich in eine Pokerpartie geraten und äußerst zuversichtlich, dass er den Pot gewinnen würde. Da ihm aber das Geld ausgegangen war, griff er, ohne sich umzusehen, nach hinten zu seiner Braut, tastete nach ihrem linken Zeigefinger und zog an ihrem Verlobungsring. Virgie befreite sich aus seinem Griff, nahm den Ring selbst ab und reichte ihn ihrem Mann. Wenn ich das nicht gemacht hätte, hätte Johnny mir den ganzen Finger abgerissen, erzählte sie.
Ich fragte, ob Johnny den Pot gewonnen hatte. Na sicher, erwiderte Virgie und hielt mir ihre linke Hand unter die Nase. Der Ring saß an seinem angestammten Platz – über sechzig Jahre und viele Millionen Dollar später.
Auch heute noch ist Moss in jeder Pokerrunde gefürchtet. Seine bemerkenswerte Fähigkeit, die Gegner zu lesen und dementsprechend gnadenlos und brutal zuzuschlagen, lässt ihn nur selten im Stich – auch wenn er heute, mit Mitte achtzig, einräumt, dass sein Stehvermögen nicht mehr das ist, was es einmal war. Nur in einem Punkt reagiert er noch genauso mürrisch und abschätzig wie früher, nämlich auf Emporkömmlinge aus allen Teilen der Welt, denen Fortuna in Vegas gelegentlich zulächelt, ohne dass sie sich dort ihre Sporen verdient hätten – entweder dort oder in der texanischen Pokerszene, die aber selbst den Veteranen nur vom Hörensagen bekannt ist.
Die Zeiten sind längst vorbei, in denen Männer wie Johnny Moss als herumreisende Spieler ihr Geld verdienten, immer auf der Suche nach dem nächsten großen Pot, und ihre illegalen Gewinne im wahrsten Sinne des Wortes mit der Waffe in der Hand vor der ständigen Gefahr eines Raubüberfalls schützen mussten. Heute gilt Pokern fast schon als ehrbare Tätigkeit. Es ist offiziell legalisiert im Staate Nevada, findet unter den prüfenden Augen der Steuerbehörden statt und bildet den Gegenstand wissenschaftlicher Studien und gelehrter Abhandlungen. Poker ist ein derart fester Bestandteil des amerikanischen Lebensstils geworden, dass es selbst von Touristen besichtigt wird. Doch trotz seiner weltmüden Ausstrahlung wirkt Moss auch im Alter immer noch so, als würde er sich nach jenen romantischen Pioniertagen zurücksehnen, in denen beim Poker nur die Stärksten überlebten und herausragende Leistungen beim Kartenspiel nichts anderes waren als ein Symbol für die Fähigkeit eines Mannes, sich in jeder Lebenssituation zu behaupten – zur Not auch mit Gewalt.
Dieser kampfeslustige Achtzigjährige hatte also bei der aktuellen World Series schon ein Turnier gewonnen und in einem weiteren Wettbewerb übellaunig den zweiten Platz belegt, hinter einem Turnierneuling aus Atlantic City: Mit dem Gewinn des ersten Preises in Höhe von 158 000 Dollar im Seven-Card Stud war es dem Norweger Thor Hansen als erstem Nicht-Amerikaner gelungen, sich einen World-Series-Titel zu sichern. Bestand also tatsächlich Hoffnung für mich? Außerdem war das Preisgeld für den diesjährigen Weltmeister inzwischen auf über eine halbe Million Dollar
angestiegen …
Die World Series of Poker erstreckt sich über drei Wochen im Mai und umfasst inzwischen fünfzehn Wettbewerbe, von Draw und Stud Poker über Razz (oder Lowball) bis hin zu Omaha (Hold’em mit vier Handkarten). Manche dieser Turniere werden mit Limit gespielt, also mit festgelegten Einsätzen; bei anderen gilt das Pot Limit, wobei ein Einsatz maximal die Höhe des momentanen Pots erreichen darf; und wieder andere spielt man No Limit, also ohne Limit. Der Höhepunkt jeder World Series ist natürlich das 10 000-Dollar-No-Limit-Texas-Hold’em- Turnier, bei dem jeder Teilnehmer 10 000 Dollar Startgebühr zahlen muss und dessen Gewinner sich Weltmeister nennen darf.
Weit mehr als alle anderen Pokervarianten ist No Limit Hold’em ein Spiel, das die Spreu vom Weizen trennt, die Männer von den Jungs, die Einheimischen von den Touristen und die Profis von den Amateuren – denn die wichtigste Eigenschaft eines guten Hold’em-Spielers ist Aggressivität. Wenn man die stärksten Karten zugeteilt bekommt oder nach dem Flop das stärkste Blatt besitzt, sollte man unbedingt einen hohen Einsatz bringen. Am Abend zuvor hatte die Puppe, erfreulicherweise ganz aufgeregt über meinen Erfolg beim Satellitenturnier, in ihren erstaunlichen Selbstlos-Modus umgeschaltet und mich von Stund an vorbehaltlos unterstützt. Nun muss man wissen, dass sie selbst auch keine schlechte Pokerspielerin ist und mit allen Wassern gewaschen.
Als wir uns zusammentaten, hatte es daher auch keiner endlos langen Diskussionen bedurft, um darin übereinzustimmen, dass wir eine absolut gleichberechtigte Beziehung führen wollten. Ich betrachtete sie nicht als Haus- oder Putzfrau, und sie sah mich nicht als Brotverdiener, der von neun bis fünf arbeitet und sich danach mit Pantoffeln und Pfeife in seinen Ohrensessel zurückzieht. Fifty-fifty lautete unsere Abmachung, mit der einzigen unausgesprochenen Bedingung, dass wir uns gegenseitig das Recht und die Freiheit einräumten, weitestgehend wir selbst sein zu können. Daher ließ ich mich am Abend vor dem Big One voller Dankbarkeit und Respekt von ihr verwöhnen: Sie bot an, jeder meiner Launen zu folgen, und verzichtete dieses eine Mal auf ihren üblichen Wunsch, in die nächste Disko zu gehen oder sich Sinatra im Bally’s anzusehen. In der kommenden Nacht kam es darauf an, ordentlich Schlaf zu bekommen. Das Problem war nur, dass mir genau das nicht mehr gelingen wollte.
Es war bereits gegen fünf, als wir in unsere geräumige Suite wankten – nur acht Stunden vor dem Moment, in dem ich mich an den Pokertisch setzen musste, um eine Partie zu spielen, für die sämtliche meiner geistigen Fähigkeiten in Höchstform zu sein hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen, mehr getrunken als normalerweise in drei Tagen zusammen und war derart erschöpft von zwölf Stunden am Pokertisch, inklusive zweier kraftraubender Turniere, dass ich eine ganze Woche Ruhe gebraucht hätte. Nicht Nick der Grieche, sondern ich, Tony der Brite, war bereits ausgezählt, ehe mein Kopf den Türpfosten berührte, von meinem Kopfkissen ganz zu schweigen – so lautete zumindest der spätere Bericht der Puppe. Aber Vegas wäre nicht Vegas, wenn das irgendeine Rolle gespielt hätte. Dies ist die Stadt, in der Tag und Nacht eins sind.
Während der zeitlich unbegrenzten Runden am Pokertisch kann es schon mal passieren, dass man auf seine Uhr schaut und vollkommen ahnungslos rätselt, ob die angezeigte Uhrzeit morgens oder abends meint. Die Zeit zum Schlafengehen ist immer dann gekommen, wenn man sich danach fühlt. Und wer sich telefonisch wecken lässt, bekommt von der Stimme auf Band ein fröhliches Guten Abend, dies ist Ihr Weckruf zu hören – vollkommen unabhängig von der tatsächlichen Tages- oder Nachtzeit. Die Vorhänge im Zimmer bleiben sowieso die ganze Zeit über geschlossen, in der Annahme, dass sie eh nur dazu dienen, den Raum zu verdunkeln.
So wie die allgegenwärtige Klimaanlage jeden Gast immun macht gegen die draußen herrschenden, absurd hohen Temperaturen (die einen wie ein Schlag treffen, wenn man auf die Straße tritt), so spottet das Casinoleben den sinnlosen Zyklen von Sonne und Mond. In Vegas ist Tageslicht ein aufdringliches, lästiges Ärgernis, das die strahlende, aufregende Schönheit einer von Neonlichtern erhellten Nacht nur hinauszögert. In keinem einzigen Casino von Las Vegas hängt eine Uhr – ein weiterer Trick des Managements, um die Besucher noch schneller von der Realität zu entfernen. Die einzige Uhr, die sich in Glitter Gulch ab und zu meldet, ist die eigene biologische Uhr, deren Alarmschrillen man auf eigene Gefahr ignoriert.
Meine innere Uhr hätte an diesem bedeutsamen Morgen dringend ein paar neue Quarzbatterien gebrauchen können. Ein Frühstück wäre vielleicht keine schlechte Idee, schlug die Puppe fürsorglich vor. Aber wo? Auf dem Zimmer oder unten im Cafe? Entscheidungen über Entscheidungen. Ich überließ ihr das Kommando, und nur kurze Zeit später marschierte eine Phalanx von Früchten, Joghurt, Müsli, Haferflocken, Eiern mit Speck, Pfannkuchen und Waffeln durch unsere Tür, begleitet von einer riesigen Kanne heißen, dampfenden Kaffees. Wenn ich auch nur eine Weile in diesem Turnier bleiben wollte, dann konnte dies möglicherweise für längere Zeit die letzte Mahlzeit sein. Vielleicht mit einem kleinen Scotch hinuntergespült, um meine Nerven zu beruhigen?
Auf keinen Fall. Es ist ein Filmmythos, dass Pokerspieler am Tisch trinken. Das Spiel findet zwar häufig in verrauchten Räumen statt, und selbst die Spieler mit einem tragbaren Ventilator – heutzutage eine zunehmend gereizte Minderheit – sind im Laufe der meisten Vegas-Turniere gezwungen, als Passivraucher die Menge an Nikotin aufzunehmen, die einem Päckchen Zigaretten entspricht. Doch die Bandbreite der Erfrischungen, die von den Serviermädchen permanent nachgeschenkt werden, reicht von Mineralwasser (Mountain Valley, nicht Perrier – und selbst das gilt als äußerst gewagt) bis hin zu Kaffee. Selbst eine Coca-Cola führt bei den anderen Spielern schon zu gerunzelten Augenbrauen, als würde man sich einen Anabolikacocktail hinter die Binde kippen. Nur ein einziger ehemaliger Weltmeister, der leutselige Bill Smith, der den Titel 1 985 holte, trank sich beharrlich zum Sieg.