Ende der Geschichte eines Pokerspielers und seine Spielstrategien Teil II

Nach einem angespannten anderthalbstündigen Kampf wiederholte ich das Wunder, mit dem alles überhaupt erst begonnen hatte, und gewann das erste und einzige 1 000-Dollar- Satellitenturnier, das zu spielen ich mir gestattet hatte. Dieser Erfolg wirkte Wunder für meine Moral – und für mein Spielkapital: Im zweiten Jahr hintereinander hatte ich mir für nur einen Tausender die Teilnahme am 10 000-Dollar-No- Limit-Hold’em-Turnier gesichert, der offiziellen Pokerweltmeisterschaft. Damit machten neuntausend der zehntausend noch sicher als Einlage im Safe verwahrten Dollar plötzlich einen dramatischen Sprung und landeten in der Gewinnzone.

Zum Zeitpunkt meiner Ankunft mit achtzehntausend Piepen im Plus, erkannte ich plötzlich, wie sehr es mich geschmerzt hätte, die Hälfte meiner Jahreseinnahmen für das Privileg einer rituellen Schlachtung bei der Weltmeisterschaft hinzublättern. Dazu kamen die 650 Dollar, die ich bislang mit viel Mühe bei dieser letzten Reise gewonnen hatte, so dass ich, auf das Jahr gesehen, nun bei 17 650 Dollar im Plus stand. Falls es nicht zu einem spektakulären Desaster kam oder zu einem Straßenraub, einem Überfall oder einer Verschwörung unter transatlantischen Einbrechern, konnte ich am nächsten Morgen in der Gewissheit beim Big One Platz nehmen, das Jahr mit Profit abzuschließen. Jetzt musste ich nur noch den ersten Tag überstehen und besser abschneiden als auf dem neunzigsten Platz.

Diese Zielsetzung hatte zwar keine greifbare Bedeutung, erwies sich aber als äußerst obsessiv. In meinem Innersten wusste ich, dass ich nur dann den Hauch einer Chance auf den Sieg hatte, wenn ich schon früh Risiken in Kauf nahm – Risiken, die mich genauso gut aus dem Turnier werfen konnten. Einige Profis vertraten diesbezüglich eine andere Ansicht: In ihren Augen hing alles davon ab, zu Anfang Risiken zu vermeiden. Warte, bis du einen Vorteil hast, spiel ihn aggressiv aus und vergrößere so konsequent deinen Chipstapel. Niemand hat je die World Series gewonnen, indem er einfach nur mitspielt, sagten die einen; dagegen behaupteten die anderen, dass man nur so gewinnen konnte. Einig waren sich alle nur darin, dass noch nie jemand Weltmeister geworden sei, der auf dem Weg zum Titel nicht ein wenig Glück gehabt hätte.

Nicht das Geld zählt, sondern nur der Titel. Mit dieser altehrwürdigen Geisteshaltung trat am nächsten Morgen ein Profi nach dem anderen vor die Kameras, vermeintlich unbeeindruckt vom Gedanken an ein Rekordpreisgeld von insgesamt 1,78 Millionen Dollar. Als ich an der Reihe war, brach ich mit der Tradition und gab zu, dass mir das Geld schon sehr gelegen käme. Außerdem sei es für mich eine Ehre, an dem Ereignis überhaupt teilnehmen zu dürfen. Als unmittelbares Ziel gab ich bescheiden an, mein Vorjahresergebnis verbessern zu wollen. Na bitte: Ich hatte es schon wieder gesagt, obwohl ich die ganze Nacht über versucht hatte, meine Psyche von dieser Belanglosigkeit abzulenken. Welche der beiden Meinungen vertrat ich? Gehörte ich zu den Risikofreudigen oder zu den hoffnungsvoll Abwartenden? Mittlerweile lief ich ernsthaft Gefahr, mich in der künstlich aufgerissenen Kluft zwischen beiden Standpunkten zu verlieren.

Falls es noch eines Beweises bedurft hätte, dass aus mir mittlerweile ein echter Profi geworden war, dann lieferte ihn meine völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Eröffnungsfeierlichkeiten, die ich im vergangenen Jahr als Amateur noch in vollen Zügen genossen hatte. Diese Veranstaltung ist die einzige im Pokerjahr, bei der die Pros sichtlich nervös werden – zum einen, weil hier ihr Ruf auf dem Spiel steht, und zum anderen, weil sie sich fragen, ob dies nun endlich ihr Jahr werden könnte. An Tisch Acht, Platz Eins, saß der Nervöseste von allen – ein einsamer, blasser Brite, der sein gesamtes Leben auf diesen Moment ausgerichtet hatte. In diesem Augenblick verflüchtigten sich die langen und sorgsamen Monate seiner psychologischen Vorbereitung geradewegs durch die Schlitze der Klimaanlage. Er war ein hoffnungsloses Nervenbündel, unsicher über seine Taktik, verwirrt in Bezug auf Quoten und Outs, und er stellte sich die Frage, welcher Teufel ihn eigentlich geritten hatte, sich dieser Tortur auszusetzen.

Lag es etwa an seiner Einstellung? Wie auch immer: Der Typ war ein Wrack. Er war schon heißgelaufen, bevor Jack Binion das Turnier mit seinem traditionellen Ausruf Ante up and Deal! eröffnete. In der ersten halben Stunde fürchtete dieser Idiot sich davor, gute Startkarten zu bekommen. Risikofreudig? Er hätte noch nicht einmal einen Schritt auf eine feuchte Treppenstufe gewagt. Am Nachbartisch kam es schon bei der allerersten Hand zu einem Drama: Ein Full House mit Assen wurde von einem Royal Flush geschlagen. Auf diese Weise flog ein armer Kerl binnen einer Minute als Erster aus dem Turnier – aber mein lieber Mann, was war das für ein stilvoller Abgang! An unserem Tisch dagegen umkreisten neun Spieler einander wie misstrauische Revolverhelden, von denen keiner gewillt war, als Erster zu ziehen.

14.00 Uhr: Eine halbe Stunde ist vorbei, und ich habe bisher nur einen Pot gewonnen. Ich bin im Big Blind und schleiche mich mit 10-8 in die Hand, worauf der Flop 10-10-K bringt. Okay, wer also hat das Paar Könige? Niemand, so wie es scheint. Ich setze 500 Dollar, ein Spieler geht mit, und der Turn bringt eine Fünf. Ich erhöhe um weitere 1 000 Dollar, um herauszufinden, ob mein Gegner die letzte Zehn mit einem besseren Kicker hat, doch erneut bringt er nur meinen Einsatz. Auf dem River kommt eine Sieben. Vorsichtig checke ich, was er ebenfalls tut; dann dreht er 10-A um. 1 500 Dollar sind futsch. Wenn man es in diesem Turnier zu irgendwas bringen will, muss man solche Pötte gewinnen. Hohe Nervosität und niedrige Moral drehen mir fast den Magen um.

14.10 Uhr: Ich steige mit 9-4 aus, was mir nicht schwerfällt – um dann zu sehen, wie der Flop 9-9-9 bringt. Anscheinend wird es einer dieser Tage werden, doch warum muss mir das ausgerechnet heute passieren?
14.20 Uhr: Mein K-8 von einer Farbe scheint mir einen Einsatz von 200 Dollar wert, besonders, nachdem mit dem Flop K-Q-8 auftauchen. Drei Spieler checken; ich setze 500 Dollar, und nur einer von ihnen geht mit. Der Turn bringt noch einen König und damit ein Full House. Damit gewinne ich zwar nur 700 Dollar, hole mir aber immerhin die Hälfte meiner verlorenen Chips zurück.

Verlässt mich mein Glück? Ich weiß nur, dass ich eine Kuriosität bin – der Elefantenmensch von Las Vegas. Jemand hat den Fotografen erzählt, ich sei ein englischer Amateur, der sich als Profi ausgibt, woraufhin mir ihre Blitzlichter die Netzhaut versengen. Die anderen Spieler wundern sich erkennbar, was das ganze Getue soll. Wie ein Star spiele ich ganz sicher nicht.
15.30 Uhr: Mit noch 8650 Dollar habe ich es bis zur ersten Pause geschafft. Ich habe nur etwa sechs Hände gespielt. Ist das angebrachte Vorsicht oder hoffnungslose Versagensangst?

Ich bin mir diesbezüglich immer noch nicht sicher, als schon die zweite Phase beginnt. Mit einer Erhöhung der Antes kostet mich diese Runde, dank einer erbärmlichen Pechsträhne, 1 100 Dollar pro Stunde nur fürs Aussteigen und Zugucken. Anderthalb Stunden vergehen, ohne dass ich auch nur ein spielbares Blatt auf die Hand bekomme. Ich versuche Geduld aufzubringen, doch meine angestaute Energie macht es mir sehr schwer, einfach dazusitzen und die Ruhe zu bewahren. Ein paar bescheidene Steals verhindern, dass mein Stapel unter 7 500 Dollar schrumpft. Ein weiterer dieser Bluffs bringt mich erneut über die 8 000 Dollar, als mich plötzlich meine Blase daran erinnert, dass ich in der Pause gegen meine festen Gewohnheiten verstoßen habe.

Bei obligatorischen Grundeinsätzen von 25 Dollar pro Hand kostet mich der Besuch auf dem Klo nun 50 Dollar. Wie kommt es, dass ich so pessimistisch an dieses Turnier herangegangen bin und zugelassen habe, dass ich mich den ganzen Tag unterlegen fühle? Selbst nach einer ganzen Saison Poker in der obersten Spielklasse hat mich der Gedanke an irgendeine Art von Weltmeisterschaftsteilnahme nervös gemacht wie einen Schuljungen – und dabei zählte ich laut Broschüre doch zu den Favoriten. Äußerlich wirkte ich anscheinend cool und gelassen, aber kaum dass der Startschuss gefallen war, verwandelten die Selbstzweifel mein Inneres in Wackelpudding. Das ganze Jahr über hatte ich mir etwas auf mein Können eingebildet, auf mein Nervenkostüm, meine Selbstdisziplin, ja sogar auf mein Herz, und dabei angenommen, dies alles hätte sich durch die Erfahrung noch verbessert.

Aber besaß ich wirklich jene unergründliche, undefinierbare Einsicht, die die besten Pokerspieler der Welt auszeichnet? Hatte mich die reine Spielfreude blind gemacht gegenüber den Feinheiten des Gedanken- und Kartenlesens und der Quoten und Outs? Oder lag es nur daran, dass ich nicht das Zeug zum Profi hatte? Eines hatte ich im Laufe des Jahres jedenfalls gelernt: Die besten Pokerspieler der Welt – von denen nun etwa ein Dutzend an den Tischen um mich herum saßen – zeichnen sich durch einen bemerkenswerten Wesenszug aus, eine gelassene Gleichgültigkeit gegenüber den weltlichen Eigenschaften des Geldes. Für die meisten von uns Normalsterblichen ist Geld ein Gradmesser für den Erfolg – nicht nur beim Poker, sondern auch im Leben.

Das soll nicht heißen, dass wir andere Menschen notwendigerweise an ihrem finanziellen Erfolg bemessen oder gar unser eigenes Glück über den Zustand unseres Bankkontos definieren. Geld ist vielmehr das Hilfsmittel, das wir in ausreichender Menge benötigen, um unseren Laden zu schmeißen, und sei er noch so klein. Für die besten Pokerprofis hingegen spielt Geld nur als Arbeitsmaterial eine Rolle. Die meisten von ihnen leben äußerst bescheiden. Dafür bewegen sie sich in einer Welt, in der pleitegehen nicht notwendigerweise bedeutet, dass man kein Geld mehr zum Überleben auftreiben kann. Doch genug Geld zum Spielen aufzutreiben – wieder ernsthaft Poker spielen zu können – erfordert erheblich höhere Beträge.

Selbst diese Risikofinanziers unterteilen sich, allgemein gesprochen, in zwei vollkommen unterschiedliche Lager. Von den Pokerweltmeistern, die diesen Hauptpreis wenigstens einmal in ihrem Leben erringen konnten, haben einige sofort die Zukunft ihrer Frauen und Familien abgesichert – Pokerehen sind berüchtigt für ihre finanziellen Höhen und Tiefen – und den Rest des Geldes zur Absicherung ihres Spielkapitals genutzt. Ist einem das erst einmal gelungen, fällt es nicht schwer, Geld gegenüber eine gewisse Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. Die andere Gruppe hat das Preisgeld genauso schnell verpulvert, wie sie es gewonnen hat.

Stu the Kid Ungar zum Beispiel erzählt geradezu beiläufig von den riesigen Beträgen, die er beim Poker dank seiner Begabung und seiner Unermüdlichkeit gewonnen hat, nur um das Geld dann impulsiv bei irgendeiner Wette, die weit weniger berechenbar, aber dafür viel spannender war, auf den Kopf zu hauen. Diese Form von fataler Schwäche wird von den anderen Spielern Leak, also Leck, genannt. Johnny Chans gewaltige Pokergewinne beispielsweise haben vor kurzem eine vita nuova an den Pai-Gow-Pokertischen finanziert, wo das Ergebnis weniger sicher, aber die Action weitaus aufregender ist. Jack Straus’ ganzes Leben verlief wie eine einzige Achterbahnfahrt: Was er beim Poker mit einzigartiger Genialität gewann, warf er kurz danach bei irgendeiner obskuren Sportwette wieder zum Fenster hinaus.

Auf diese Weise rannen ihm mir nichts, dir nichts mühsam verdiente Hunderttausende von Dollar durch die Finger – und Jacks Reaktion bestand darin, fröhlich die breiten Schultern zu zucken. Bob Stupak, Besitzer eines Casinos namens Vegas World und selbst ein hervorragender Pokerspieler, setzte beim Superbowl 1 989 eine Million Dollar. (Er gewann.) Für jemanden, der durch das Management von Glücksspielen ein gewaltiges Jahreseinkommen erzielt, war dies ein kleines Risiko, verglichen mit seiner Wahlkampfkampagne im gleichen Jahr, als er Bürgermeister von Las Vegas werden wollte. (Er verlor.) Stupaks Superbowl- Wette sorgte selbst bei den größten Edelzockern für hochgezogene Augenbrauen. Doch in Vegas kommt und geht das Geld in derartig irrealen Beträgen, dass es für Insider allmählich seine universelle Bedeutung verliert. Als Ungar einen Pass benötigte, um zu einem Auslandsturnier zu reisen, brachte er es nicht fertig, das notwendige Formular auszufüllen und die 18 Dollar Gebühr zu entrichten. Nachdem alle üblichen Fristen verstrichen waren, schleppte ihn ein Freund mit sanfter Gewalt zum Postamt (das nur wenige hundert Meter vom Horseshoe entfernt liegt) und ließ ihn dort einen Ausnahmeantrag stellen.

Anschließend langte Ungar in seine Tasche und schob drei Hundertdollarnoten über den Tresen. Daraufhin blickte der Postbeamte völlig verblüfft auf, sagte: Aber Sir, es sind doch bloß 18 Dollar und gab ihm 282 Dollar zurück. Das Wechselgeld einsammeln musste jedoch Ungars Freund, denn The Kid war schon halb an der Tür, um sich wieder seinem Spiel zu widmen. Für die breite Masse der Zocker liegt die emotionale Anziehungskraft von Vegas natürlich im Duft des großen Geldes und lässt sie immer wieder gierig zurückkehren – allein siebzehn Millionen Zocker im Jahre 1 989. Woche für Woche steckt irgendwer in der Stadt irgendwo einen Dollar in einen Schlitz und gewinnt ein paar Millionen. Das Leben dieser Gewinner wird nie wieder dasselbe sein.

Doch die Creme de la creme der Pokerspieler sieht darin keine Herausforderung. Wer bei klarem Verstand präzise Entscheidungen treffen will, bei denen mehr Geld auf dem Spiel steht, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben verdienen, für den darf dieses Zahlungsmittel wirklich keinerlei Einfluss mehr auf die wahren Werte des eigenen Lebens haben. Auf einem solchen Niveau ist das Geld, das man zur Verfügung hat, eher ein Gradmesser für den eigenen Ruf und das Selbstwertgefühl als ein reeller Wert oder Garant eines bestimmten Lebensstils: Das Einzige, was Jack Straus nach eigener Aussage beim Verlieren spürte, war schiere Scham. Für diese Typen ist es keine große Sache, im wahrsten Sinne des Wortes an einem Tag Millionär und am nächsten Tag pleite zu sein.

Sie steigen auf und stürzen ab, leben und sterben nach dem Motto: Heute Sekt, morgen Selters. Ich wusste, dass ich insgeheim Sekt bevorzugte – was bedeutete, dass der Seelenklempner stolz auf mich sein konnte. Außerdem bedeutete es, dass meine Familienangehörigen und der Filialleiter meiner Bank durchatmen konnten. Es hieß allerdings auch, dass ich die Weltmeisterschaft nicht gewinnen würde – weder heute noch morgen und auch nicht in näherer oder ferner Zukunft.

17.45 Uhr: Ich habe die zweite Pause erreicht, mit 7 900 Dollar, aber alles andere als gut gespielt. Immer noch Blitzlichtgewitter, und die anderen Spieler fragen sich langsam, ob ich vielleicht ein unbekanntes Mitglied der Königsfamilie bin. Dann bahnt sich auch noch ein Page des Binion’s den Weg am Sicherheitspersonal vorbei und bringt mir ein Telegramm. Liegt jemand im Sterben – von mir einmal abgesehen?

DU MUSST WISSEN, WANN DU’S VON STU STIEHLST,
WANN DU ERIC ERHÖHST,
WANN DU COOL SPIELST,
WANN DU EIN ASS ZIEHST.
UND IST JOHNNY ERST PLEITE,
DANN MACHEN WIR MÄTZCHEN,
WIR FAHR’NZUM STRAND, SCHÄTZCHEN,
UND TEILEN DIE BEUTE.

Vielleicht wird die Puppe ja mal unsere erste amerikanische Dichterin des Vaterlands.
18.40 Uhr: Bobby Baldwin kommt an unseren Tisch. Irgendwie passt das – denn er war es, der 1 978 Weltmeister wurde, als ich zum ersten Mal nach Vegas kam. Heute ist Baldwin Präsident der Golden Nugget Corporation, Steve Wynns rechte Hand und einer der ganz wenigen Profis, die eine erfolgreiche Pokerkarriere als Sprungbrett für eine noch erfolgreichere Karriere im Geschäftsleben genutzt haben. Bei den meisten läuft es andersherum. Baldwins Stapel ist sogar noch kleiner als meiner. In seinem dreiteiligen Anzug sieht er aus, als wäre er nur kurz zu einem Höflichkeitsbesuch hereingeschneit. Er wirkt sehr entspannt, unterhält sich mit Freunden im Saal, schaut auf die Uhr, als wäre es nun aber wirklich Zeit für ihn, an den Schreibtisch zurückzukehren. Um 18.50 Uhr, zehn Minuten nach seiner Ankunft, löst er seine und meine Probleme, indem er zulässt, dass ich ihn aus dem Turnier werfe. Mein Paar Buben hält seinem Paar Zehner stand; damit habe ich einen ehemaligen Weltmeister ausgeschaltet und etwas für mein angeschlagenes Ego getan. Baldwins 3 000 Dollar bringen mich wieder auf plusminus null.

Ein bescheidenes Ziel ist erreicht; jetzt ein kleiner Zwischenspurt, und die Sache könnte noch mal eine Wendung nehmen. Im Laufe der nächsten Stunde passe ich auf wie ein Luchs. Baldwins zuvorkommende Kapitulation hat in mir Phantasien einer dramatischen Aufholjagd aufkommen lassen. Gerade habe ich mir mein zigstes Glas Wasser bestellt und mir einen neuen Zahnstocher gegönnt, als ich im Bunker vor mir mein erstes Ass seit langem entdecke. Zeit, den Moment zu genießen und laaaangsam einen Blick auf die andere Karte zu werfen. Noch ein Ass. Das ist es. Ein weiterer Spieler, ein unscheinbarer kleiner Kerl mit Kneifer, geht meine 5 000 Dollar vor dem Flop mit. Das ist alles, was er hat. Er ist damit All-in, und nach jetzigem Stand der Dinge muss ich gewinnen.

Der Dealer verbrennt die oberste Karte, um dann 10-9-8 umzudrehen, von verschiedenen Farben. Hat der Kneifertyp etwa J-Q? Oder 9-10? Das wäre natürlich möglich, spielt aber jetzt auch keine Rolle mehr, da er schon all seine Chips in die Mitte geschoben hat. Ich traue ihm ein hohes Paar zu, Könige vielleicht – womit sonst würde er All-in gehen? Hätte ich auch erhöht, wenn er noch Geld gehabt hätte? Das ist eine akademische Frage und zu dieser späten Stunde keine kostbaren grauen Zellen wert. Während der Dealer die nächste Karte verbrennt, kann ich bloß um ein Ass flehen. Der Turn bringt eine Drei, der River eine Sieben. Der Gute wird doch wohl keine Sechs haben? Er schaut mich über diese nervigen Brillengläser prüfend an, und sein Blick zeigt mir, dass er ein Blatt zusammenbekommen hat. Das lässt mich den Mut verlieren:

Wohl nie zuvor sind zwei Asse mit weniger Selbstbewusstsein aufgedeckt worden. Mit einem mitleidigen Blick zeigt mir der Kneifertyp zwei Zehnen zu der auf dem Tisch. So viel zur dramatischen Aufholjagd. Zehn Minuten später, um 20.05 Uhr, rette ich mich mit knapp 4 000 Dollar in die dritte Pause. Vierundsechzig der hundertachtundsiebzig Teilnehmer sind ausgeschieden. Ich werde verdammt viel Glück benötigen, wenn ich besser abschneiden will als im Vorjahr. Um 20.25 Uhr bekomme ich als Small Blind K-J von Kreuz. David Bellucci, der kalifornische Immobilienmakler, den ich noch aus Marokko kenne und der heute dieselben Shorts und dasselbe T-Shirt trägt wie damals am Pool des Mamounia, setzt 1 000 Dollar. Ich gehe mit, und der Flop bringt Herz-König, Pik- Bube und Herz-Vier. Ich habe die beiden besten Paare. Das ist die Entscheidung. Jetzt alles oder nichts.

Bellucci setzt einen Riesen, und ich erhöhe um alles, was ich noch habe – meine letzten 2 800 Dollar. Er denkt ungefähr drei Wochen lang nach, sieht, welch kleines Loch ich in die vor ihm liegenden Chipberge reißen kann, schenkt mir den Anflug eines Lächelns und geht mit. Der Turn bringt eine vermeintlich unbedeutende Kreuz-Sieben. Dann taucht auf dem River etwas auf, das ich nicht sehen will: ein Herz. Herz-Drei. Ich hatte Bellucci einen Flushansatz zugeschrieben, aber vielleicht hat er ja auch D-10 vor sich liegen? Ich zeige ihm meine beiden Paare, woraufhin er seine Karten
aufdeckt – jawohl, A-8 von Herz. Selbst jetzt, da ich sie nicht länger benötige, leuchten automatisch die Quoten auf meiner inneren Anzeigetafel auf und erinnern mich daran, dass ich genau wie im vergangenen Jahr von einer Eins-zu-vier-Chance aus dem Turnier geworfen worden bin.

In diesem Augenblick endete meine Karriere als Pokerprofi. Ich wankte davon, schwer nach Luft ringend, als hätte mir jemand einen harten Schlag in die Magengrube versetzt. Es war ein starker körperlicher Schmerz, der allmählich einem unbarmherzig pochenden inneren Druck wich, wie ihn nur abgehärtete Profis empfinden. In diesem kurzen, erhellenden Augenblick der Niederlage wurde mir – sehr zu meiner Überraschung – klar, dass ich mich tatsächlich irgendwann im Verlauf des Jahres in einen Pokerprofi verwandelt haben musste. Nachdem ich auf mein Zimmer gewankt war, eine halbe Stunde aus dem Fenster gestarrt und beschlossen hatte, dass dies eine Neuigkeit war, auf die sogar die Puppe warten konnte, schlich ich mich ganz wie ein Amateur, wie ein wiedergeborener Tourist die Treppen hinunter zurück in den Saal. Auch wenn jetzt der Zeitpunkt gekommen war, die Karo- König-Uhr endgültig abzulegen, so blieb mir zumindest der Trost, dass ich das Jahr finanziell im Plus abgeschlossen hatte.

Abzüglich der noch ausstehenden Plastikgeldzahlungen (die Flugtickets für die Osterreise, die Concorde und andere Nebensächlichkeiten) betrug mein Nettogewinn als professioneller Pokerspieler exakt 12 300 Dollar – und zwar nach Deckung sämtlicher Kosten, vom Seelenklempner bis zu den absurden Strapazen von sechzehn Atlantiküberquerungen in acht Mona-ten. Weitere 26 000 imaginäre Dollars hatte ich bei Satellites gewonnen; dazu kamen Turnierteilnahmen im Wert von 40 000 Dollar. Doch gleichzeitig war ich in der Weltrangliste um einundzwanzig Plätze gefallen, und zwar auf Rang 111 – eine Zahl, die bei englischen Kricketspielern auch als Half-Nelson bekannt ist und ihrer Ansicht nach Unglück bringt.

Von Amerikanern konnte ich diesbezüglich kein Mitgefühl erwarten. Noch weniger hilfreich waren die Wohlmeinenden, die mich daran erinnerten, dass die Teilnehmerzahl in diesem Jahr höher gewesen war als im Vorjahr, und mir mithilfe komplexer mentaler Arithmetik einzureden versuchten, mein Ergebnis hätte sich insgesamt gesehen verbessert – eine Selbsttäuschung, der Politiker, Wirtschaftswissenschaftler, Meinungsforscher und sogar Pokerspieler in fragwürdiger Regelmäßigkeit unterliegen, die aber an meiner persönlichen Himmelstür nichts als Betrug darstellt. Für mich gab es an diesen Zahlen nichts zu rütteln; nicht einmal ich selbst konnte mich dazu bewegen, sie entsprechend saisonaler Abweichungen zurechtzurücken oder Fluktuationen durch Marktverschiebungen bzw. weltweite Trends einzukalkulieren.

Als Amateur hatte ich im vergangenen Jahr den neunzigsten Platz belegt; jetzt, nach zwölf Monaten als Profi, war ich die Nummer 111 der Weltrangliste. Dieses Maß an Verschlechterung – jedwede Verschlechterung – war nicht Sinn der Übung gewesen. Wenn ich ehrlich war, hätte ich das Jahr lieber finanziell im Minus abgeschlossen und dafür bei der World Series besser abgeschnitten. Ich hatte einfach schlecht gespielt, und das wusste ich auch. Wahrscheinlich hielt der innere Schmerz deshalb so lange an – er verschlimmerte sich sogar noch, ehe er endlich abebbte – und ließ mich übel gelaunt die letzten drei Tage des Turniers miterleben. Ich dachte sogar daran, vorzeitig nach Hause zu fliegen, doch das erschien mir ausnehmend taktlos. Also quälte ich mich durch den Rest der Woche, indem ich eine möglichst gute Miene zum bösen Spiel machte, mit David Spanier frühstückte, mit Henri Bollinger zu Mittag und mit Eric Drache zu Abend aß. Ja, ich sah mir sogar George Burns im Caesar’s Palace an und gewann ohne große Lust oder gar Befriedigung regelmäßig 500 Dollar am
$ 20/$ 40-Tisch.

Während ich dort wieder einmal mit unverblümter Langeweile die Chips einstrich, drang von der anderen Seite des Saals die Nachricht zu mir, es sähe so aus, als würde Johnny Chan zum dritten Mal in Folge den Titel holen. Der Finaltisch war viel schneller dezimiert worden als gewöhnlich. Starke Herausforderer wie George Hardie, der Besitzer des Bicycle Club, und ein irischer Millionär namens Noel Furlong, auf dessen Schultern Europas letzte Hoffnungen ruhten, waren auf dem Weg zu jenein Showdown weggepustet worden, den einer seiner Protagonisten seit zwölf Monaten vorhergesagt hatte. Der einzige Spieler, der noch zwischen dem Oriental Express und dem ersten Hattrick in der Geschichte der World Series stand, war jener draufgängerische junge College-Abbrecher, der das ganze Jahr über – von Malta und der Karibik bis in die Spielsäle Kaliforniens – seinen Triumph bei der Pokerweltmeisterschaft angekündigt hatte: Phil Hellmuth Jr.

Bevor ich mich dazu aufraffen konnte, in die Arena zurückzukehren, war bereits alles vorbei. Chan, mit A-7 von Pik als Startkarten, hatte einen hohen Einsatz von etwa einer halben Million getätigt. Hellmuth, der ein Paar Neunen hielt, hatte seinerseits genug erhöht, um ihn zu einem All-in zu zwingen. Als Chan mitging, lagen 1,78 Millionen Dollar auf dem Tisch. Der Flop brachte Kreuz-König – Karo-Zehn – Karo-König; nur ein Ass konnte Chan jetzt noch retten. Auf dem Turn erschien die Pik-Dame, auf dem River die Pik-Sechs. Damit war Phil Hellmuth neuer Weltmeister, und zwar mit vierundzwanzig Jahren der jüngste in der Geschichte der World Series. Als mir auffiel, dass er im gleichen Jahr geboren worden war, in dem ich meinen Schulabschluss feierte, sank meine Stimmung endgültig auf den Nullpunkt.

Arty Cobb, der Mann mit den modischen Baseballkappen und der Glück bringenden Herz-Acht, hatte das Finale kommentiert. Nun verkündete er über die Lautsprecheranlage: Poker mag zwar nur ein Spiel sein, doch es geht dabei nicht um Leben oder Tod. Es geht um viel mehr. Erzähl das mal dem Seelenklempner, dachte ich. Dann telefonierte ich mit der Puppe, die dieses eine Mal meine Laune nicht bessern konnte. Und anschließend rief ich den Crony an, der all meine dunklen Wolken mit einem Satz verjagte: Er erinnerte mich schlichtweg daran, dass ich nun rechtzeitig am Dienstagabend wieder zu Hause wäre.

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