Die Geschichte eines Zockers in Poker Europa Teil III – erfahren Sie mehr
John Kennedy war offenbar einer der wenigen Macho-Präsidenten, die mit dem Pokern nicht viel anfangen konnten. Doch das andere große Trauma der jüngeren US-Geschichte, die Kubakrise im Oktober 1 962, kann fast bis ins letzte Detail als sich langsam entwickelnde Pokerhand analysiert werden, zu der Bluff und Gegenbluff ebenso gehörten wie Einsätze bis ans Limit. Wie Truman und alle anderen hervorragenden Zocker spielte auch Chruschtschow eher den Mann als dessen Karten. Kennedy und er waren sich bereits auf dem Wiener Gipfel begegnet, und dort hatte das russische Staatsoberhaupt den neuen amerikanischen Präsidenten als jung, unerfahren und leicht beeinflussbar gelesen. Sein anschließender Schritt, völlig unverfroren mit Atomwaffen bestückte Abschussrampen auf Kuba stationieren zu wollen, gründete ganz wesentlich auf dieser Einschätzung:
Chruschtschow glaubte, Kennedy würde sich als zu schwach erweisen, um darauf angemessen zu reagieren. Er hatte seinen Gegenspieler falsch eingeschätzt. Als Aufklärungsflugzeuge vom Typ U-2 keine hundertfünfzig Kilometer vor der Küste Floridas russische Atomraketen entdeckten, verhängte Kennedy sofort eine Seeblockade, um zu verhindern, dass russische Schiffe Atomsprengköpfe zu den Abschussrampen transportieren konnten. Die besten Pokerspieler bluffen oder erhöhen um das Maximum, um ihren Gegenspielern etwas zum Nachdenken zu geben – und genau dies tat Kennedy, als er kühl sein zuvor festgelegtes inneramerikanisches Reiseprogramm absolvierte und Chruschtschow den nächsten Schritt überließ.
Keines der beiden Länder wollte den Atomkrieg – in Wahrheit blufften beide. Doch die Amerikaner blufften mit der besseren Hand, was die nukleare Überlegenheit anging. Obwohl ihm dies bewusst sein musste, wollte Chruschtschow sein Gesicht nicht verlieren. Also befahl er den fünfundzwanzig Handelsschiffen, die auf dem Weg nach Kuba waren, ihren Weg fortzusetzen, und beorderte eine Eskorte von Atom-U-Booten zu ihrem Schutz.
Die Chips lagen auf dem Tisch, und die Welt beobachtete voller Angst, wie der Showdown immer näher rückte. Welcher der beiden Männer würde einen Rückzieher machen? Bei besonders großen Pötten, bei denen für zwei gute Spieler zu viel auf dem Spiel steht, als dass sie das Ergebnis dem Schicksal überlassen könnten, handeln sie zuweilen ein Übereinkommen aus, das auf der Stärke ihres jeweiligen Blatts gründet. Auf die gleiche Weise bemühten sich diplomatische Vertreter hinter den Kulissen fieberhaft um einen Ausweg – einen Weg, der der schwächeren Seite die Möglichkeit bot, ohne Gesichtsverlust zu passen. Kennedy war scharfsinnig genug zu erkennen, dass er Chruschtschow bei dessen Rückzug würde helfen müssen – die Alternative war ein amerikanischer Sieg, der den Weltuntergang bedeuten konnte.
Durch sein Einverständnis, im Gegenzug für den Abzug der russischen Abschussrampen nicht auf Kuba einzumarschieren, zeigte er Chruschtschow einen würdigen Ausweg auf. Sofort wurde die russische Flotte zurückbeordert. Vor Spielbeginn waren die Quoten fast völlig ausgeglichen gewesen, doch am Ende hatte Chruschtschow gepasst und seinem Kontrahenten den Pot überlassen. Kennedys wahres Geschick bei diesem Sieg zeigte sich darin, dass er seinem Gegner eine Niederlage ohne Demütigung ermöglichte. Die Alternative hätte sich fraglos als Pyrrhussieg erwiesen.
Wieder daheim, unterhielt ich mich mit dem Seelenklempner darüber, dass Normalsterbliche an jedem Tag ihres Lebens Risiken eingehen, die auf ihrer persönlichen Ebene ebenso nervenaufreibend sind und ebenso komplizierte psychologische Überlegungen beinhalten wie Kennedys Entscheidungen als US- Präsident. Egal, ob im Beruf oder Privatleben – in der Hoffnung auf ein günstigeres Schicksal kennt kein Mensch Hemmungen, das Blatt, das er auf der Hand hält, stärker darzustellen, als es tatsächlich ist. Und oft genug wird dieser Versuch belohnt. Das Herausfordern von Wahrscheinlichkeiten ist tief im menschlichen Geist verwurzelt: Großunternehmer jonglieren mit Zahlen, Politiker haben Affären, Eheleute führen einen ständigen häuslichen Guerillakrieg, Kinder nutzen ihre Eltern aus. In Dr. Eric Bernes Buch Spiele der Erwachsenen findet sich ein lehrbuchmäßiger Beweis dafür – falls es noch eines Beweises bedurft hätte -, dass Menschen ihre Beziehungen als eine Serie von Glücksspielen führen, häufig mit hohem Einsatz. Nur die Limits sind Sache der Spieler.
Seit jeher bewundere ich Menschen, die Risiken eingehen und ihr Leben mit einem angemessenen Gespür für die Gefahren führen, welche die von ihnen getroffenen Entscheidungen mit sich bringen. Zugegebenermaßen finden die meisten genügend Anreize in ihrem Alltagsleben, ohne sich den offenkundigen Gefahren des Glücksspiels aussetzen zu müssen. Setzt ein Hang zum Glücksspiel – Poker ausnahmsweise einmal eingeschlossen – zwingend eine Art von Schwarzem Loch im sonstigen Leben des Spielers voraus? Oder ist er einfach nur eine Klasse für sich? Fast alle Pokerspieler, die ich kennen gelernt habe, von den mit allen Wassern gewaschenen Profis in Las Vegas bis zu den Amateuren der Dienstagabend-Brüderschaft in London, zeichnen sich durch ein gemeinsames Merkmal aus:
Sie alle lieben das Gefühl, sich dem System zu widersetzen, und sind entschlossen, das Leben zu ihren eigenen Bedingungen zu leben. Allgemein gesprochen handelt es sich bei ihnen um Menschen, die nur selten über einen längeren Zeitraum einer geregelten Arbeit nachgingen, seit sie aufgrund ihrer jugendlichen Mittellosigkeit dazu gezwungen wurden. Wenn sie sich in späteren Jahren erneut dazu genötigt sahen oder von sich aus einen Versuch in diese Richtung wagten, entzogen sie sich dieser Situation so schnell wie möglich, ungeachtet der damit verbundenen Konsequenzen.
Um ein klassisches Beispiel für dieses Verhalten zu finden, brauchte ich nur einen Blick auf meine eigene journalistische Karriere zu werfen: Ich behielt selten länger als anderthalb Jahre die gleiche Stelle – drei Jahre waren das absolute Maximum – und ging regelmäßig freiwillig, meist, wenn alles gerade gut lief.
Dabei war es nicht so, dass ich schon immer etwas anderes hatte machen wollen: Im Grunde verabscheute ich nur das Dasein als Angestellter, der sein Leben nach dem Ermessen anderer vertrödelte. Als mein letzter Chef mich mit einem Beeper ausstattete, den ich ständig tragen sollte, war das als Kompliment gemeint, als Symbol meiner Position, meiner Unentbehrlichkeit. Für mich jedoch stellte dieser Rufempfänger das erniedrigendste Symbol meiner Knechtschaft dar – denn nun stand ich ihm plötzlich vierundzwanzig Stunden am Tag zur Verfügung, sogar im Schlaf, auf der Toilette, am Pokertisch. Doch abgesehen von diesem einjährigen Ausrutscher konnte uh mich inzwischen rühmen, seit rund einem Jahrzehnt mit meiner eigenen Feder meine Brötchen zu verdienen, und das als Sohn eines kulturfreien nordenglischen Haushalts, in dem kein einziges Buch herumlag.
Seit rund zehn Jahren musste ich mich nicht mehr vor den feudalen Sklaventreibern der Fleet Street verantworten und war Herr meiner eigenen Zeit und daher auch meiner eigenen Kontoüberziehung. Auf diese Tatsache war ich ungeheuer stolz. In den Augen des Seelenklempners passte das alles in ein Muster. Es sei offensichtlich, dass ich ungewöhnlich großen Wert darauf legte, größtmögliche persönliche Freiheiten zu erlangen; doch ich hatte auch äußerst empfindliche Schutzmechanismen gegenüber der daraus entstehenden ständigen Verlustgefahr entwickelt.
Der Seelenklempner meinte, er brauche mehr Input, um diese These in den kommenden Wochen weiterzuentwickeln. In der Zwischenzeit begnügte er sich mit einigen Ausführungen über männliche Bindungen. Die rein männliche Dienstagabendrunde beispielsweise stellte in seinen Augen einen klassischen Fall männlicher Affiliation dar. Sie sei fast so etwas wie ein Geheimbund mit eigenem Verhaltenskodex – ein Regelwerk, das sogar jenen Männern eine Form von Etikette aufzwang, die ansonsten schon bei der Erwähnung des Wortes zurückzuckten. Diese Runde mache sich auf recht selbstzufriedene Art über die Arbeitswelt lustig. Sie habe ein eigenes Wertesystem im Hinblick auf Nichtmitglieder – meist zynischer Natur, wenn nicht gänzlich abschätzig. Als Mitglied dieser Runde Außenstehende zu verspotten präge in gewissem Maße das Selbstbild.
Dem Seelenklempner zufolge bot dieses Forum seinen Mit-gliedern die Gelegenheit, mit ihren diversen Problemen auf eine Art und Weise umzugehen, die sich mit ihrem Stolz und ihrer Selbstachtung vereinbaren ließ. Beim Poker beispielsweise konnten die Dienstags -Machos auf akzeptable Art und Weise verlieren. Verlieren ist eine der schwierigsten Herausforderungen im Leben und führt häufig zu schweren psychischen Problemen. Doch egal, wie sehr man es verabscheuen mag – selbst der größte soziale Aufsteiger muss die Freiheit haben, in irgendeinem Bereich seines Lebens zu verlieren. Wie bei Kennedy und Chruschtschow gilt: Egal, wer am Pokertisch verliert, er wird in der Regel als verhinderter Gewinner angesehen – wobei natürlich die Tatsache hilft, dass jedes Spiel definitionsgemäß sowohl Gewinner als auch Verlierer hat. In einer geselligen Runde wie der unseren werden die Mit-spieler dem Verlierer auf die Schulter klopfen, Pech gehabt sagen und ihm in der Regel das Gefühl geben, es sei nicht seine Schuld gewesen.
Man wird sagen, er wäre ein lobenswertes Risiko eingegangen und hätte sein Blatt richtig gespielt, doch leider hielten sich die Quoten nicht immer an das Regelbuch, und der alte Soundso könne sich glücklich schätzen, dass er genau diese Zauberkarte gegen ihn gezogen habe. Tatsächlich wird der alte Soundso der Erste sein, der dies behauptet, und das nicht nur, weil er als guter Gewinner dastehen will – falsche Bescheidenheit kann schnell in Heuchelei ausarten. Obwohl er daran glaubt, dass ihn sein Talent zum Sieger gemacht hat und nicht etwa eine glückliche Fügung der Karten, ist er bereit, das Gegenteil zu behaupten, in der Hoffnung, dass der schwächere Spieler trotz finanzieller und psychologischer Nachteile weiterspielt.
Die Annalen des Dienstagabendspiels wissen zu berichten, dass ich an einem fröhlichen Dezemberabend sogar einmal vorgeschlagen habe, ein Pfund aus jedem Pot zu entnehmen und die sich daraus ergebende Summe für ein gemeinsames Weihnachtsessen zu verwenden. Der Vorschlag verursachte ein allgemeines Kopfschütteln. Irgendjemand wies daraufhin, dass wir uns über das Spiel hinaus absolut nichts zu sagen hätten, und der logische Schritt weg vom Reden über das Pokern bestand dann, Poker zu spielen. Wieso also nicht lieber eine
Weihnachts – Pokerrunde veranstalten?
So rührend mein vorweihnachtlicher Vorschlag sein mochte, so absurd war er auch. Uns gegenseitig zum Abendessen einzuladen hätte bedeutet, unsere Gruppe ihres Lebensinhalts zu berauben. Obwohl wir im Allgemeinen gut miteinander auskamen, hatte keiner von uns das Bedürfnis auf ein Treffen außerhalb unserer Pokerrunde – die uns ja ursprünglich auch erst zusammengebracht hatte. Allein schon die Vorstellung, sich aus einem anderen Grund zu treffen, erschien uns absurd. Ganz nebenbei widerlegte dies auch die gelegentlichen neofreudianischen Sprüche der Puppe, wir seien tief in unserem Inneren ein Haufen latenter Homosexueller. Doch wer von uns dachte so intensiv über seine Leistungen am Pokertisch nach, dass er dadurch tiefere Einsichten über sich selbst gewann? Und falls mir das mit Hilfe des Seelenklempners gelang, würde ich dann mit einem eingebauten Vorteil ins Spiel gehen?
Charakter… nur darum geht es beim Pokern, sagte der amerikanische Schriftsteller David Mamet, seit seiner Collegezeit ein begeisterter Spieler. Die meisten von uns versuchen gelegentlich, sich simplen Wahrheiten zu entziehen, falls diese nicht mit unserem Selbstbild übereinstimmen. Wenn wir depressiv sind, schaffen wir die Welt um uns herum neu, um unsere Stimmung zu begründen. Dabei übersehen wir allzu leicht glückliche Umstände oder deuten sie falsch. Am Pokertisch kann uns dies teuer zu stehen kommen, denn auch wenn sich dort manchmal Gelegenheiten bieten, so kehren sie selten beharrlich zurück…
In einem geistreichen, einfühlsamen Essay mit dem Titel Things I Have Learned Playing Poker on the Hill schreibt Mamet: Viele schlechte Spieler … können die Vorstellung nicht ertragen, dass all ihre Handlungen aus einem ganz bestimmten Grund geschehen. Der schlechte Spieler lässt sich nicht dazu herab, seine Gedanken zu hinterfragen, indem er seine Handlungen analysiert. Ein solches Vorgehen könnte und kann gewisse Aspekte seines Selbst offenbaren, von denen er lieber nichts wissen will.
Für den Seelenklempner und mich waren dies wertvolle Hinweise – Mamets Version von Freud gefiel uns um Längen besser als Freud selbst. Unserer Ansicht nach erkannten zu wenige Menschen an, dass sich jeder ihrer Schritte, im Beruf wie im Privatleben, aus einem Komplex psychologischer Bedürfnisse ableitet, der seit der Kindheit in ihnen vorhanden ist. Im Alltagsleben wie am Pokertisch äußern sich diese Bedürfnisse in bestimmten Taktiken, die am Ende zu Sieg oder Niederlage führen. Angenommen, Charlie war der Sohn eines starken Vaters, der die Gewohnheit hatte, hart, aber gerecht zu sein. Charlies Dad hielt seine Frau für zu nachsichtig gegenüber den Kindern, und obwohl er ein liebevoller Vater war, verhängte er Strafen, wenn er es für angemessen hielt. Im Gegenzug liebte Charlie seinen Vater, fürchtete ihn jedoch auch.
Aus diesen Gründen wird Charlie sich letztlich als schwacher Pokerspieler erweisen. Er wird immer wieder gegen das beste Blatt am Tisch setzen – aus dem Bedürfnis heraus, dass sein Dad Mitleid mit ihm zeigt und ihn gewinnen lässt. Und neun von zehn Mal wird Dad das nicht tun – so wie er es schon damals nicht getan hat. Weiterhin auf die Nachsicht seines Vaters zu setzen, im Erwachsenenalter wie in der Kindheit, wird Charlie ein Vermögen kosten. Das Kind ist der Vater des Mannes. Seit seiner Schulzeit kennen seine Freunde Fred als eine Art Rebell. Er lehnt sich einfach gern gegen Autoritäten auf – und das macht Fred zum gern gesehenen Gast unserer Dienstagspokerrunde. Sein Bedürfnis, sich möglichst in aller Öffentlichkeit auf einen Kampf mit denen einzulassen, die ihm überlegen sind, führt dazu, dass er ständig gegen bessere Blätter mitgeht. Wenn er dann hoch verliert, wird Fred Trost in der Vorstellung suchen, dass man ihm übel mitgespielt hat. Er wird so lange gegen die Autorität – in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit, über die er sich bewusst hinwegsetzt aufbegehren, bis er pleite ist.
Bill, der arbeitslose Schauspieler, ist zu jedem nett. Er ist gut zu Tieren und hilft alten Damen über die Straße. Bill hat das dringende Bedürfnis, geliebt zu werden. Tja, die Dienstagabend- Jungs werden Bill zu Tode lieben. Er wird weiterhin auf vier Karten zu einem Flush und auf Inside Straights (in der Mitte offene Straßen) setzen, in der Hoffnung, dass auch Fortuna ihm zeigen wird, wie sehr sie ihn liebt. Wir anderen am Tisch wissen jedoch, dass sie dem alten Bill nur alle 4,5 bzw. elf Male hold sein wird.
Konnte der Seelenklempner mir also dabei helfen, meine eigene Poker-Programmierung zu entschlüsseln? Er las eine Notiz von seinem Klemmbrett vor und zitierte dabei meine Aussage aus unserer ersten Sitzung, in meinem Elternhaus habe man versucht, jede Form von Meinungsverschiedenheit zu verhindern. Meine Eltern hätten einen solchen Widerwillen gegenüber Unstimmigkeiten innerhalb der Familie gehegt, dass sogar politische Diskussionen vermieden oder im Keim erstickt worden seien, aus Angst, sie könnten in einen Streit ausufern. Wie in jeder Familie habe es natürlich Generationsunterschiede bei Einstellungen und Ansichten gegeben, doch meine Eltern hätten nie zugelassen, dass diese offen zutage traten. Das Heranwachsen sei lediglich ein Erlernen und Übernehmen der elterlichen Werte gewesen.
Dadurch hätte ich nur ungenügend den Spielraum für meine private Rebellion bekommen, den jeder Teenager braucht. Derlei Hemmungen seien offenbar durch die Liebe zu meinem Vater noch verstärkt worden, dessen persönliche Ansichten und Werte sich naturgemäß häufig nicht mit den meinen vertrugen. Vermutlich hatte ich erst nach dem Tod beider Elternteile – mit sechsunddreißig Jahren – damit begonnen, mich mit bestimmten Aspekten meines Selbst auseinanderzusetzen, die bis dahin ausbaufähig gewesen seien, jedoch verborgen blieben und von mir zuvor ignoriert wurden.
Nach Ansicht des Seelenklempners hatte bis zu diesem Zeitpunkt also ein Deckel auf meiner eigenen Büchse der Pandora gelegen, der dann jedoch mit einem gewaltigen Ruck aufgesprungen sei. Zunächst einmal hätte sich meine natürliche Streitlust nun mit doppelter Heftigkeit erwachsene Betätigungsfelder gesucht. Es sei für ihn keine Überraschung, sagte er, dass ich mich als von Natur aus äußerst leistungswillig erwiesen hätte – sowohl in meiner beruflichen Laufbahn als auch in meinen privaten Beziehungen – und dass sich dies in letzter Zeit noch verstärkt habe. Überdies schiene ich mir bis dahin der puren Bosheit nicht recht bewusst gewesen zu sein, die in
mir – wie auch in allen anderen Menschen – lauerte.
Das Pokern würde all diesen Charakterzügen ein Ventil geben, was natürlich wünschenswert und gesund sei. Das Spiel befriedige auf völlig akzeptable Art und Weise ein menschliches Grundbedürfnis – es sei immer besser, meine Pokerkumpel zur Sau zu machen, als die Menschen, die ich liebte und die mir nahe standen. Bei seiner Tätigkeit stieß mein Seelenklempner immer wieder auf ein Syndrom, das er Was immer einen auf Touren bringt getauft hatte: So brachte sich ein Industriekapitän selbst in Verlegenheit durch seinen Hang zu Lederkleidung und exotischen sexuellen Abenteuern, und ein Jetset-VIP legte gelegentlich einen Umweg über Bangkok ein, da es ihm nach Dienstleistungen gelüstete, die nur dort zu haben waren.
Nach Ansicht des Seelenklempners machten sich diese Menschen zu große Sorgen über derlei Anomalien; in Wahrheit handelte es sich dabei nur um menschliche Grundbedürfnisse, die man am besten einfach nur befriedigte – natürlich immer unter der Voraussetzung, dass niemand anderes dabei zu Schaden kam. Ich musste an meinen ersten Auslandsauftrag für die Sunday Times denken, die mich während eines der größten Sexskandale in Großbritannien zu einer unbeschreiblich langweiligen EWG- Konferenz über den Ärmelkanal schickte. Während ich versuchte, ein Mitglied der französischen Regierung zu interviewen, war er wesentlich mehr daran interessiert, von mir zu erfahren, wieso das Verhältnis eines britischen Kabinettmitglieds mit einer Prostituierten für dessen Rücktritt sorgen sollte. In Frankreich machen wir uns Sorgen, wenn einer unserer Minister keine Geliebte hat!, protestierte er.
Ah ja, sagte der Seelenklempner wieder, um dann einen weiteren Treffer auf meinem spirituellen Solarplexus zu landen. Wir haben nun einige der Gründe identifiziert, die Sie das Pokern derart genießen lassen, und einige der Bedürfnisse benannt, die das Spiel für Sie befriedigt. Wir sind uns darüber einig, dass Pokern eine notwendige und gesunde Befreiung für einige tief in Ihrem Charakter verwurzelte Aspekte darstellt. Doch die Art und Weise, in der es andere, gleichfalls wichtige Dinge in Ihrem Leben überdeckt, kann sich zu einem ernsthaften Konflikt entwickeln. Denn Menschen, die wie Sie das Leben als langweiligen Leerlauf zwischen zwei Pokerdienstagen betrachten, haben zweifellos ein Problem. Daher müssen wir uns jetzt der Tatsache zuwenden, warum das Pokerspiel so überproportional große Bedeutung in Ihrem Leben gewonnen hat.