Die Geheimnisse der Kartenspiele und die Poker-Psychologie Teil II

Verglichen mit Slims breitem texanischen Gegurgel klang mein englischer Akzent so unsäglich langweilig, dass die meisten meiner Erwiderungen sich schon auf halbem Weg über dem Tisch verloren. Nachdem ich stundenlang gute Miene zum bösen Spiel gemacht hatte, gelang es mir schließlich, den Meister in einer entscheidenden Hand zu überraschen – die einzig sichere Art, ihn dazu zu bewegen, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Meine Erleichterung war fast greifbar, als Slims spitze Zunge sich endlich ein anderes Opfer aussuchte. Also dieser Typ ist ja wohl nicht mal in der Lage, ein Loch in den Schnee zu pinkeln, beschimpfte er einen stiernackigen Buchmacher aus dem Londoner East End. Der Mann gehörte zu einem kleinen Kontingent von Cockneys, die es offenkundig nicht gewohnt waren, derlei höhnische Bemerkungen schweigend hinzunehmen.

Zuerst verloren sie ihren kühlen Kopf und warfen mit Schimpfworten um sich. Dann – und das war genau Slims Absicht – brachen sie einen persönlichen Streit gegen ihn vom Zaun, in dem sie Blätter spielten, mit denen sie hätten passen sollen. Außerdem versuchten sie, ihn mit ihren Beleidigungen zu großen Erhöhungen zu verlocken. Aber wenn es etwas gibt, wovor Amarillo Slim ganz bestimmt keine Angst hat, dann ist das eine große Erhöhung – zumal er vom Caesar’s Palace, für das er hier als Botschafter auftrat, mit Spielkapital ausgerüstet worden war. Ein Blick auf die verschrumpelten alten Wasserträger am Hoteleingang, die statt des landestypischen Fes unpassenderweise die kaiserlichen Baseballkappen des Caesar’s trugen, hätte den Cockneys dies verraten können.

Nachdem er sie losgeworden war, richtete Slim sein sprachliches Sperrfeuer gegen Donnacha O’Dea, einen der besten Spieler Irlands, der in internationalen Kreisen hohes Ansehen genießt. O’Dea, ein Buchmacher aus Dublin, der bei den Olympischen Spielen 1 968 sein Land als Schwimmer vertrat, hat es im Laufe seiner Pokerkarriere bis an den Finaltisch der World Series gebracht. Er gehört zu den wahren Gentlemen der Pokerszene, doch bei aller Zurückhaltung und höflichem Auftreten ist Donnacha ein gefährlicher Gegner, der sich nicht leicht aus der Fassung bringen lässt. Als der Flop zwei Herz brachte und Dublin über einen hohen Einsatz aus Texas nachdachte, versuchte Slim ihm auf die Sprünge zu helfen, indem er rief: Hey, Ire, ich hab kein Herz auf der Hand!

Ohne aufzuschauen und vermeintlich ohne seine Gedankengänge zu unterbrechen, gab Donnacha murmelnd zurück: Slim, du hast überhaupt kein Herz. Eric Drache kannte Slims Methode schon viel zu gut, als dass er sich darüber noch aufgeregt hätte. Seine Antworten waren in der Regel von einer tiefen Weisheit geprägt, die sich davon abIeitete, dass er das ganze Leben als eine einzige Pokerpartie betrachtete. Nervös, Eric?, stichelte Slim, als sich die beiden bei einem größeren Pot Auge in Auge gegenübersaßen. Teufel noch mal, Slim, erwiderte Eric, wie kann einen irgendeine Hand nervös machen, wenn man doch weiß, dass noch fünfzig Millionen weitere folgen werden?

Ein entspannter Eric brachte es dann auch fertig, erst Slim und nach ihm zwei weitere Amerikaner, dann mich und drei andere Engländer vom Tisch zu fegen, um schließlich sein viertes Turnier in dieser Woche zu gewinnen. Das glaubt mir in Vegas kein Mensch, sagte er, ehe ein anderer es aussprechen konnte. Die Tatsache, dass ich besser abgeschnitten hatte als Slim, tröstete mich mühelos über den Verlust einer weiteren Teilnahmegebühr und den Absturz meines Spielkapitals auf die Hälfte seines anfänglichen Umfangs hinweg. Nun blieben mir nur noch die 10 000 Dollar für die Teilnahme an der Weltmeisterschaft.

Irgendwie machte mir die ganze Sache weniger aus, als es in Las Vegas der Fall gewesen war. Bei meinem letzten Besuch in Marokko war ich 1 975 bei Hassans Grünem Marsch mitgetrottet – seiner Invasion der zu Spanien gehörenden Kolonie Spanisch-Sahara, die seine loyalen Landsleute und ausländische Journalisten zu potenziellem Kanonenfutter vereint hatte. Zwar hatte ich als Reporter in Nordirland drei Jahre lang zwangsläufig Kopf und Kragen riskiert, doch in der Sahara blickte ich zum ersten Mal in meinem Leben wortwörtlich in die Geschützrohre feindlicher Panzer. Meine daraus entstandene Reportage las sich heldenhaft, was jedoch nicht meinem damaligen Bauchgefühl entsprach. Jedenfalls hatte ich damals wie heute kaum Zeit gehabt, das Nachtleben von Marrakesch zu genießen.

Daher tauchten die Puppe und ich – trotz meines gegenwärtigen Spielniveaus bester Laune – an diesem Abend tief in den Souk ein, um eine exotische marokkanische Nacht zu erleben. Es war Zeit, den Ratschlag aus der Broschüre des Mamounia zu beherzigen und das Herz von Marrakesch auf die gleiche Art zu entdecken, wie man eine Orange schält. Wie empfohlen, fuhren wir in einer Kutsche um die massiven, ockerfarbenen Festungswälle der Stadt herum bis zum Gerbertor, dem Bab ed Debbagh, wo ein undurchdringliches Gewirr von Handwerkern tatsächlich Häute von unglaublicher Weichheit bearbeitete. Dann ging es zur Meditation zu den Saaditen-Mausoleen, zum Spaziergang um den See vor dem El Bahdi-Palast und zum Einkauf in das farbenfrohe Chaos der Medina.

Zur bezaubernden Stunde der Abenddämmerung machten wir uns auf zum Platz Djemaa el Fna, um die Akrobaten, Clowns, GeschichtenerzähIer und Schlangenbeschwörer zu sehen, bis wir schließlich einem vermeintlichen Geheimtipp folgten und das beste Restaurant Marokkos aufsuchten – wo wir prompt auf eine lautstarke transatlantische Gruppe von Pokerspielern stießen. Als wir wieder zurückkehrten, war die britische Friedensberichterstattung in Gestalt von John David Morley eingetroffen – ja, genau der mit den Salzburger Sandalen. Er hatte von den
exotischen Abenteuern in der Wüste gehört und war im Auftrag des Observer angereist.

Wenn man Morley eine Weile zu Slim gibt und die Mischung mit Slims Reisegefährten Larry Sanders (dem Manager des Kartensaals im Caesar’s Palace) würzt, kann man sicher sein, dass dabei ein Wettangebot herauskommt, auf das Titanic Thompson stolz gewesen wäre. Und auch dieser Abend stellte keine Ausnahme dar. Sanders schwelgte zunächst einmal in Kindheitserinnerungen. Sein Vater, so berichtete er, arbeitete in einem Holzfällerlager und hatte das Einverständnis seiner Frau, jeden Freitagabend Poker zu spielen – unter der Bedingung, dass er den jungen Larry mitnahm.

Auf diese Weise erlernte der Junge das Spiel durch bloßes Zuschauen. Eines Abends, als sein Vater eine in der Mitte offene Straße zusammenbekommen hatte, zeigte er das Blatt dem Jungen, damit dieser nicht unruhig wurde. Hey, Dad, du hast ja einen Inside Straight bekommen!, rief der kleine Larry, worauf alle anderen Spieler prompt ausstiegen. Die Geschichte diente als Nachweis dafür, dass Larry Sanders schon im Alter von sechs Jahren Pokerhände lesen konnte. Es folgten diverse Anekdoten aus Slims Kindheit, die zu weiteren Geschichten über seine Reisen mit Larry führten. Sanders erzählte uns von jener Zeit, in der Slim seine Pferde aus Texas für eine Rodeoveranstaltung ins High Sierra Casino am Lake Tahoe holte. Wollt ihr wissen, was Slim gemacht hat? Er ist auf einem dieser vermaledeiten Klepper direkt ins Casino geritten. Hat er echt gemacht.

Wegen einer Wette, unterbrach Slim ihn. Jemand hat mich dazu angestiftet. Aber dem Manager des High Sierra schmeckte es gar nicht, dass ich auf meinem wunderschönen Gaul in sein Casino geritten kam. Nein, mein Lieber, das schmeckte ihm ganz und gar nicht. Also ritt ich mein Pferd rückwärts an den Würfeltisch heran und meinte zu ihm: Würfelspielen kann schließlich jeder Pferdearsch! Irgendwie führte diese Geschichte im Verbund mit dem einheimischen Fusel zu einer neuen Wette zwischen Slim, Sanders und Morley, die uns für den Rest der Woche beschäftigen sollte. Diskrete Nachforschungen ergaben, dass im Inneren des Grand Casino La Mamounia noch nie ein Kamel gesichtet worden war. Wie erwartet fühlte Slim sich dazu herausgefordert, dieses Manko zu beheben und machte sich für einen Einsatz von angeblich 1 000 Dollar beim nächsten Morgengrauen auf die Suche nach einem passenden Reittier.

Daher begann das Turnier dieses Nachmittags zunächst ohne ihn, bis die ungewohnte Ruhe von dem Ruf unterbrochen wurde: Hey, hier drinnen ist es ja so still, dass man eine Maus auf Baumwolle pinkeln hören könnte! Offenbar hatte Slim im Souk ein wenig gehandelt, da er ein arabisches Gewand und einen Fes trug. Hey, wie gefällt euch das hier, Jungs? Das ist mein Pokerfes! Halt dich geschlossen, Kumpel, wir sind mitten im Spiel, murmelte einer der Cockneys, dem schon Slims bloßes Erscheinen auf die Nerven ging, ganz zu schweigen von seiner spektakulären Aufmachung. Doch jeder Versuch, Slim zum Schweigen zu bringen, war letztlich zum Scheitern verurteilt. Was ist das denn für ein Wort: Kumpel? Wo ich herkomm, verwenden wir es nur unter Tage.
Hey, Tahoe, alter Gauner, wie stehen die Aktien? Slims gute Laune verbesserte sich noch durch die Ankunft zweier weiterer vertrauter Gesichter, beides amerikanische Profis, die als Partner reisten und spielten.

David Bellucci und Howard Tahoe Andrew waren am Vorabend eingeflogen, nachdem sie sich eine Weile in London die Zeit vertrieben hatten. Bellucci, finanziell betrachtet der Seniorpartner, ist ein kalifornischer Immobilienmakler, der sein ganzes Leben lang Poker nur zum Vergnügen spielt… Für mich ist es ein Gesellschaftsspiel. Es stellt den Verstand auf die Probe und hält mich geistig fit. Ich kann dabei zwanzig- oder dreißigtausend Dollar auf einmal verspielen, ohne dass es mir wehtut. Wie reich ist er also? Viel, viel reicher, erwiderte er lediglich auf geäußerte Vermutungen. Mit Baseballkappe, Sweatshirt, Shorts und Sandalen war der reichste Mann am Tisch zugleich der – selbst nach hiesigen Verhältnissen – am schludrigsten Gekleidete.

Auch Tahoe ist ein kalifornischer Geschäftsmann, ebenfalls in der Immobilienbranche tätig, doch nicht so stinkreich wie Bellucci. Nachdem er aus dem Turnier geflogen war, gesellte er sich ziemlich abgekämpft zu Morley an die Bar. Wie er sich fühlte? Als hätte ich eine Immobilie gekauft und gerade festgestellt, dass sie von einem riesigen Erdbeben weggefegt wurde. Er sei noch müde von den Partien in London, erzählte er; doch wie die meisten Normalsterblichen musste auch er sich noch Sorgen ums Geld machen. Für die da, sagte er und deutete mit einer verzweifelten Geste in Richtung von uns Profis, ist Geld bloß Munition.

Tahoe hatte sich auf einen Kampf mit Zapata eingelassen, einem achtundzwanzigjährigen Sikh aus den englischen West Midlands, mit dem ich mich irgendwo zwischen Las Vegas und Wolverhampton angefreundet hatte. Wie die meisten britischen Profispieler ist Zapata ständig auf der Flucht vor dem Finanzamt. Seine Nebentätigkeit als Elektroingenieur – laut Reisepass sein Beruf – bringt ihm weniger als die 40 000 Pfund Sterling pro Jahr ein, die er nach eigener Schätzung beim Poker einstreicht. Er ist ein präzise kalkulierender Spieler, der keine Angst vor großen Risiken kennt, und fällt am Tisch so wenig auf, dass man ihn allzu leicht übersieht.

Tahoe hatte genau diesen Fehler begangen und darum vorzeitig an der Bar Platz nehmen müssen – auch wenn er sich schon bald damit trösten durfte, Zapata einen Drink spendieren zu können. Als auch ich vom Tisch flog, bekamen wir Gesellschaft von meinem Kandidaten für den Titel des besten Pokerspielers in Großbritannien, ein weiterer Steuerflüchtling, dem Namen und dem Beruf in seinem Reisepass nach zu urteilen, der viel zu illuster ist, um ausschließlich bei Turnieren zu spielen. Warum sollte ich Geld verschwenden? Turniere bieten keine Gewinnchancen, die so gut wären wie beim vorsichtigen Spiel um richtiges Geld.

Danny – nennen wir ihn mal so – stammt ebenfalls aus den Midlands und ist ein ruhiger und nachdenklicher Bursche, der die besten High Roller Amerikas in ihrem eigenen Spiel schlagen kann. Ich fragte ihn, warum nur so wenige Briten in der internationalen Pokerszene mitmischten. Wie sich herausstellte, war dies eines seiner Lieblingsthemen. Erstens liegt es am Klassensystem. Zweitens an den rigorosen Glücksspielgesetzen in Großbritannien. Drittens, bedingt durch die beiden ersten Gründe, an der fehlenden Konkurrenz. Drei Gründe, weshalb Danny regelmäßig den Koffer für Vegas packte, sobald er sich in den Clubs von London oder den Midlands das Flugticket verdient hatte.

Inzwischen kam es an den Pokertischen erneut zu einem Tag der marokkanischen Wunder. Ein Franzose, der das Turnier beobachtet hatte, bot Eric Drache 20 000 Dollar zum Spielen an, im Tausch gegen einen Anteil an seinen Gewinnen. Warum hatte er sich ausgerechnet Eric ausgesucht, jammerten wir anderen. Es lag wohl daran, dass ich der einzige Spieler war, der eine Krawatte trug, erklärte Eric später. Ganz gleich warum – der Franzose hielt die Verabredung nicht ein, nach der er am Abend das Geld übergeben wollte. In der Zwischenzeit tauchten zwei zäh wirkende Einzelgänger aus Nevada, die sich in Casablanca auf die Fährte des Pokerturniers gesetzt hatten, im Casino auf und brachten einen Haufen Geld mit – nur um bei Tagesanbruch mit leeren Taschen wieder zu verschwinden. Für Morley war das eine neue Methode, die Wüste zu begrünen. Außerdem entdeckte der Berichterstatter des Observer einen Minister aus Kuwait, noch dazu ein Prinz, der unter dem lautstarken, erwartungsvollen Geklimper von Chips im Casino erschien, dann in aller Pracht kehrtmachte und mit seinen unversehrten Dirhams – oder Diddy-Rams, wie Slim sie ständig nannte – wieder verschwand.

Am nächsten Tag, dem vorletzten unseres Aufenthalts in Marokko, sollten die eigentlichen Moroccan Open stattfinden. Noch immer war kein Einheimischer auf den Listen zu finden, und noch immer hatte Slim es nicht geschafft, auf dem Rücken eines Kamels im Casino aufzutauchen. Beide Tatsachen wurden mit beißender Ironie kommentiert, was Slim allerdings ziemlich ungerührt hinnahm. Teufel noch mal, mich schafft doch sowieso kein Marokkaner. Ist nur gut für sie, dass sie nicht mitspielen dürfen. Dafür kann ich sie in ihrem eigenen Spiel schlagen, das steht fest wie ’ne Mauer. Störrische Biester, diese Kamele. Ist nicht leicht, da raufzukommen und oben zu bleiben. Aber kein Kamel wird je den alten Slim aufs Kreuz legen. Ich wart bloß drauf, dass ihr Jungs die Einsätze erhöht.

Alle waren klug genug, nicht darauf einzugehen. Bei Slim durfte man nichts ausschließen – nicht einmal, dass er auf dem Rücken eines Kamels Poker spielte. Als wir unsere Plätze für die Hauptveranstaltung einnahmen, war jedoch kein Wüstentier in Sicht. Slim unterstrich die Bedeutung dieses Ereignisses dadurch, dass er in vollem Westernornat erschien, samt Klapperschlangen – Stetson, unter dem man ein wissendes Lächeln erkennen konnte. Es gab achtzehn Teilnehmer an zwei Tischen, allesamt Amerikaner oder Europäer, die jeweils 2 500 Dollar einzahlten und so die Preisgeldsumme auf 45 000 Dollar aufstockten. Der Gewinner würde 22 500 Dollar erhalten, der Zweite 15 000, der Dritte 7 500 Dollar. Die schlechteste Platzierung war also Rang Vier.

Dieses eine Mal landete ich auf einem dankbareren Platz. Ich wurde Fünfter. Fünf Stunden nach Turnierbeginn waren noch sechs von uns übrig. Am Finaltisch hatten wir Bellucci und Tahoe, auch als das dynamische Duo bekannt, aus dem Rennen geworfen, und dazu alle Cockneys bis auf einen. Donnacha O’Dea führte das Turnier an, dicht gefolgt von Eric – trotz der Tatsache, dass der fortwährend einnickte. In regelmäßigen Abständen war sein Schnarchen zu hören, gefolgt von dem Ruf: Wo bin ich? Wo stehe ich? Slim, Zapata, der letzte überlebende Eastender und ich hielten uns tapfer. Morley und die Puppe streiften ruhelos im Raum umher und machten sich Sorgen, wie wohl meine Stimmung beim Abendessen sein würde, falls Slim mich vom Tisch nehmen und siegreich auf einem Kamel herumreiten würde.

Als das Gegenteil geschah und ich Slim in den Vorruhestand schickte, dachten sie plötzlich über meine Gewinnchancen nach. Das ging mir genauso – bis Zapata und ich uns für einen Showdown bereit machten, der einen von uns auf Augenhöhe mit den Führenden bringen würde. Schon der zweite Platz im Turnier würde mein Spielkapital wundersamerweise erstmals leicht ins Plus bringen. Bei einem Sieg dagegen winkte nicht nur der Titel des Landesmeisters, sondern auch eine so gewaltige Aufstockung meiner Geldreserven, dass ich damit die Teilnahmegebühr an der Weltmeisterschaft begleichen konnte und dazu mein ursprüngliches Spielkapital wieder zur Verfügung haben würde – und das bei noch zwei großen ausstehenden Turnieren vor der World Series.

Ich verwünschte mich gerade für diese Gedankenspielchen, weil sie meine kostbaren grauen Zellen mit amateurhaften Nebensächlichkeiten belasteten, als ich im Bunker die Mittel zur Erfüllung meiner Träume erblickte. Da nur noch fünf Spieler übrig waren, wusste ich, dass das Paar Damen, das ich gesehen zu haben glaubte – ich überprüfte es zweimal, um mich zu vergewissern, dass es sich nicht um eine Fata Morgana handelte – als Startkarten einen enorm hohen Wert darstellte. Also erhöhte ich vor dem Flop um 3 000 Dollar, die Hälfte meines Chipstapels. Zu meiner Freude und Zapatas offensichtlichem Unbehagen fühlte er sich verpflichtet mitzugehen. Unsere jeweiligen Gefühle wurden offensichtlich bestätigt, als der Flop drei niedrige Karten brachte. Ich hatte ihn am Kragen, das wusste ich. Da ich als Erster setzen musste, schob ich meinen gesamten Stapel in die Mitte.

Das schien ihm nicht besonders zu schmecken, doch dann zuckte er mit den Schultern – schließlich ging es hier doch nur um ein Provinzturnier – und ging ebenfalls All-in. Danach einigten wir uns darauf, unsere Blätter offenzulegen. Als er meine beiden Damen sah – Vier dicke Titten!, rief Slim von der Absperrkordel herüber-, deckte Zapata ein Paar Buben auf, erhob sich und bereitete sich auf einen würdevollen Abgang vor. Für ihn war das hier kein großes Drama und schon gar keine Frage von Leben oder Tod wie für mich. Der Turn brachte eine Zehn, und allmählich gewöhnte ich mich an den Gedanken, im Geld abzuschließen, ja sogar marokkanischer Meister zu werden und Gefallen an einer ausbaufähigen Zukunft als Pokerprofi zu entwickeln.

Der Dealer verbrannte die letzte Karte und deckte … einen Buben auf, die einzige Karte im gesamten Stapel, die mich schlagen konnte. Zum ersten Mal in meiner Turnierkarriere rief mein Pech allgemeine Mitleidsbekundungen hervor. Obwohl ich innerlich Höllenqualen durchlitt, hielt mich die professionelle Selbstbeherrschung davon ab, durch Gestik oder Mimik das Ausmaß der Wunde zu entblößen, die dieser verdammte Bube gerissen hatte. Natürlich hatten wir unseren Spaß gehabt, und ich hatte unsere Unkosten beim Blackjack gedeckt; aber dieser 22 :1-Tiefschlag hatte mein Spielkapital auf unter 7 500 Dollar zurückgeworfen.

Vierundvierzig Karten hätten mir den Pot eingebracht, nur zwei Karten konnten das für meinen Gegner bewerkstelligen, und von diesen beiden war eine aufgetaucht. Ich musste an den armen alten Doug Sanders denken, einen der Golfhelden aus meiner Kindheit, der 1 970 einen Putt aus einem Meter Entfernung verfehlte und dadurch die British Open in St. Andrews verlor. Wenn man heute an diesen eleganten Zeitgenossen zurückdenkt, dann in erster Linie wegen dieses einen Putts. Vielleicht stand mir ja ein ähnliches Schicksal bevor. Sanders’ Fehlschlag hatte ihn wer weiß wie viele Dollar an Preisgeld und an Sponsorengeldern gekostet. Na schön, ich rechnete nicht gerade damit, dass jemand Golden Holden-Spielkarten auf den Markt bringen würde. Doch ein Ende meiner Pechsträhne hätte möglicherweise den Sieg in diesem verrückten Turnier und einen Betrag von 22 500 Dollar bedeutet, den ich auch dringend benötigte – ganz abgesehen von einem Umschwung meines persönlichen Schicksals bei dieser Odyssee, die als ruhmreiches Abenteuer begonnen hatte und sich nun als langsamer Tod zu erweisen schien.

Ich saß wie betäubt da, und niemand am Tisch war auch nur annähernd imstande, die Wirkung dieses Tiefschlags zu bemessen, den sie alle schon häufiger erlitten hatten als ich. Während der ungewöhnlich einmütige Chor der Mitleidsbekundungen weiterging, linderte nur der Gedanke an die komische Seite dieser ganzen Angelegenheit meinen Schmerz. Eigentlich war es ein würdiger Abschluss einer vollkommen verrückten Woche: Die Absurdität einer Landesmeisterschaft mit nur einer Handvoll Teilnehmer, darunter nicht ein einziger Vertreter des besagten Landes, hatte uns alle zu einer glücklichen kleinen Truppe zusammengeschweißt, die Ferien von der richtigen Welt machte.

Und nun war es für mich an der Zeit, wieder gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Zapata klopfte mir auf die Schulter, entschuldigte sich und gab mir die Hand, während er mein Geld einsteckte. Eric murmelte: Das war wirklich mal ein Bad Beat, Tony!
– ein Satz, der ihm nicht leicht über die Lippen kommt -, und Donnacha schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln. Sogar Slim war auf meiner Seite: Teufel, ich hätte eine ganze Ölquelle drauf verwettet, dass du dir den Pot holst. Du hattest diesen Burschen im Sack, wie diesen texanischen Kojoten, der sich in einer Falle verfängt, sich drei Beine abbeißt und trotzdem noch drinhängt…

Tony, du bist mir vielleicht ein verdammter Pechvogel. Auf jeden Fall freut mich, dass du jetzt keinen Riesen mehr verlierst, wenn ich mit ’nem Kamel hier reingeritten komme… Letztlich unterlag Donnacha beim Kampf um den Titel trotz fehlerlosem Spiel einem namenlosen Engländer, den bis dahin niemand richtig zur Kenntnis genommen hatte. Er bezeichnete sich als Geschäftsmann, gestand lediglich, irgendwo in Hertfordshire zu leben, und gab seinen Namen nur äußerst widerwillig preis. Es war, als hätte sich das Königreich des Surrealen letztlich Dada ergeben – und darum, wie mich die Puppe erinnerte, dreht sich laut Freud ohnehin alles.

Daheim in England fiel es mir noch schwerer als üblich, mit Freunden über die Welt zu reden, in der ich mich bewegte. Wie hätte ich den Jungs von der Dienstagabendrunde erklären sollen, wie elend mir angesichts meines fünften Platzes in diesem marokkanischen Turnier zumute war – wo sie dies ihrerseits ziemlich beeindruckend fanden? Wie hätte ich die unbändige Schadenfreude beschreiben sollen, mit der Slim am nächsten Morgen pünktlich vor den Stufen des Grand Casino El Mamounia auftauchte und auf einem widerspenstigen Dromedar Eintritt verlangte, das anschließend die silbernen Palmwedel umkippte und überall auf dem Teppich seine Visitenkarten hinterließ?

Mein wahres Leben schlug jeden Roman – was auch der spätere Bericht des Observer unterstrich, in dem Morleys Geschichte über Slim, die Wette und das Wüstenschiff doch tatsächlich ohne ein Bild von Slim auf dem Kamel erschien (zu meiner Zeit ein todsicheres Titelfoto). Vermutlich nahm man an, dass solche Dinge am besten der Vorstellungskraft der Leser überlassen bleiben sollten. Mittlerweile stellte ich mir ohnehin die Frage, ob ich die ganze Geschichte nur geträumt hatte. Außerdem war es meinem wackeligen Selbstwertgefühl nicht zuträglich, dass Morley mich als Anthony Holden Ltd., einen aufgehenden Stern am Pokerhimmel beschrieb und darauf hinwies, dass mein Streben nach Starruhm in der Pokerwelt länger als ein Jahr in Anspruch nehmen könnte. Offenbar sah er es als durchaus wahrscheinlich an, dass ich mich ganz in dieser Szene verlieren würde.

Zur Unterstreichung seiner Metapher beschrieb Morley die Welt eines Pokerprofis als Singularität im Universum, als Schwarzes Loch mit dem unendlichen Vermögen, Zeit, Geld und jeden Anflug von Ortssinn zu verschlucken. Für Leute wie mich sei das Leben selbst ohnehin bestimmt von ständig schwankender Liquidität, die auf lange Sicht weder gewonnen noch verloren werden kann und sich folglich angenehmer gestalten lässt, wenn man die Chips schlichtweg im Umlauf hält. Diese Sätze erinnerten mich beunruhigend stark an den Seelenklempner, mit dem sich der Umgang übrigens zunehmend schwieriger gestaltete. Seiner Ansicht nach gelang es mir inzwischen, unsere Sitzungen selbst in eine Art Spiel zu verwandeln.

Dabei sei er doch dazu da, mir Anregungen zu liefern, und nicht, um mit mir zu konkurrieren. Wenn ich jedoch endlich aufhörte, darüber nachzudenken, warum ich meine derzeitige Situation unbedingt rechtfertigen wollte, dann würde ich erkennen, dass ich mit meinen Rechtfertigungen viel zu weit ging. Eine skeptische Grundeinstellung, womöglich bedingt durch mein Naturell, sei zwar gesund, doch die Launen des Schicksals ganz aus der Sicht eines Spiels zu interpretieren hieße, in ein krankes Maß an Zynismus zu verfallen. Dieses Verhalten setze ein tiefes Misstrauen gegenüber den Mitmenschen voraus, was ebenso ungebührlich wie ungesund sei und zuweilen an unheilbare Menschenfeindlichkeit grenze.

Als jemand, der derart auf Selbsterkenntnis erpicht sei und sich in diesem Bereich so verächtlich gegenüber anderen zeige, liefe ich ernsthaft Gefahr, mein Blatt zu überreizen. Daher wagte ich meinem nüchtern analysierenden Guru nicht davon zu berichten, dass mein neuer Lebensstil einen ungünstigen Einfluss auf meine Kinder auszuüben schien. Beim alljährlichen Singwettbewerb in der Schule – der von Pie Jesu, Stille Nacht, O könnt ich fliegen wie Tauben dahin und anderem Soprangeträller geprägt war – errang der neunjährige Ben Holden den ersten Preis mit seiner dynamischen Wiedergabe von Sky Mastersons Luck be a Lady, tonight!.

Der Stolz seines Vaters wurde nur noch durch die entsetzten Blicke verstärkt, die andere Eltern auf Die Uhr richteten – insbesondere eine adelige Dame aus unserem Bekanntenkreis, die kreischte: Woher um alles in der Welt hast du denn diese Scheußlichkeit? Aber was hatte ich getan? Der arme kleine Kerl konnte ja nicht ahnen, dass jetzt sein Schulgeld in Gefahr schwebte. Bei der Entscheidung, ob ich Ostern in Dublin verbringen sollte, wo Terry Rogers seine alljährliche Pokerparty plante, oder ob ich mich wieder nach Westen auf eine weitere Reise ins Unbekannte aufmachen sollte, halfen mir das ausgeprägte Gefühl der Unwirklichkeit und der trostlose, graue Himmel über London – war ich jemals weg gewesen? – auch nicht weiter.

Von Malta über Las Vegas und Kalifornien bis nach Marokko – überall hatte man mir vorgeschwärmt, das absolute Muss der Pokersaison sei der Cajun Cup, der an jedem Osterwochenende in einer Kleinstadt zwei Stunden westlich von New Orleans ausgetragen wurde. Angeblich war das Essen hervorragend, die Landschaft atemberaubend und die Action am Spieltisch sagenhaft – umso mehr, weil die ganze Geschichte illegal sei. Doch genau aus diesem Grund waren in jüngster Zeit mehrere Veranstaltungen geplatzt. In den vergangenen zwölf Monaten wurden zwei Turniere in Myrtle Beach, South Carolina, und Mobile, Alabama, beendet, ehe sie auch nur angefangen hatten.

Aus Sorge, ihr Geld und ihre Zeit zu verschwenden, scheuten viele Pokerspieler inzwischen das Risiko einer Anreise zu solchen Veranstaltungen, die dank der Allmacht der Einwohner von Nevada in diesen Angelegenheiten auch als Out of State -Turniere bekannt waren. Derlei Sorgen verdoppelten sich um Ostern herum noch – ein Fest, das ich, wie die anderen wenigen Pokerprofis mit weichem Herzen, liebend gerne mit den Kindern verbracht hätte. In meinem Fall kam noch erschwerend hinzu, dass ich den ganzen Weg aus England anreisen musste.

Ein persönlicher Brief von den Organisatoren des Turniers ging diese Probleme offen an und zerstreute meine Bedenken. Immerhin war einer der Veranstalter Louisianas eigener Sohn Eldon Elias – derselbe Mann, der Slims Superbowl im Caesar’s Palace gewonnen und sich neben den 225 000 Dollar auch jenen Chevrolet Roadster gesichert hatte, mit dem ich so gern in den Sonnenuntergang gefahren wäre. Sein Partner war ebenfalls ein bekannter Name in der Pokerszene, nämlich Kenny Pyle. Beide hatten persönlich den Brief unterzeichnet, der mit den Worten endete: Wir versichern Ihnen, dass der nun zum vierten Mal ausgetragene Cajun Cup of Poker trotz zuletzt unglücklicher Umstände, die zur Absage von Turnieren in anderen Bundes-staaten führten, stattfinden wird. Dann fügten sie noch ihre private Telefonnummer hinzu, falls jemand weitere Bestätigungen benötigen sollte.

Ich musste an New Orleans denken, eine meiner Lieblingsstädte in den USA, an die Cajun-Küche und vor allem an die Unmengen leichter Beute, die mir von Billy Mac, meinem Tischkumpan beim abendlichen Weihnachtsessen im Horseshoe, prophezeit worden waren. Leichte Beute war jetzt vermutlich meine einzige Chance, mein Spielkapital wieder aufzustocken. Ich telefonierte ein wenig herum und stellte dabei fest, dass die meisten professionellen Turnierspieler dabei sein würden. Ich würde zwar die erste Woche verpassen, konnte es jedoch rechtzeitig zu den 500-Dollar-Limit- und Pot-Limit-Hold’em- und Omaha-Turnieren schaffen, ganz zu schweigen von der Hauptveranstaltung, einem 1 500-Dollar-No-Limit-Hold’em-Turnier, das dem Gedenken an Jack Straus gewidmet war.

Ich hatte nur noch 7 500 Dollar zum Mitnehmen übrig, musste mir also wegen der amerikanischen Zollgesetze keine Sorgen mehr machen. Und diese Reise würde in doppelter Hinsicht eine Entscheidung bringen. In meiner ursprünglichen Jahresplanung sollte der Cajun Cup lediglich das Vorspiel zu einer Pokerkreuzfahrt mit vielen Trotteln sein. Doch meine Moral befand sich inzwischen auf dem Nullpunkt, und das Selbstvertrauen war im Eimer. Falls ich je wieder in der Ersten Liga mitspielen und meinen zunehmend lächerlicheren Weltranglistenplatz verbessern wollte, würde ich dafür wohl mein Auto verkaufen oder die Hypothek auf das Haus erhöhen müssen, das ich noch gar nicht gefunden, geschweige denn bezahlt hatte – und das nur, um eine Teilnahmegebühr aufzubringen, die ich sicher verlieren würde.

Während die Puppe mir tapfer zum Durchhalten riet, informierte ich weder den Seelenklempner noch den Crony über meine Lage. Ein Gauner, so hielt ich mir mühsam vor Augen, ist ein Gauner. Ein Profi ist ein Profi ist ein Profi, oder er ist nichts wert. Falls ich jemals behaupten wollte, einmal einer gewesen zu sein, dann durfte ich auf keinen Fall jetzt die Flinte ins Korn werfen. Also blieb nur eines: Louisiana, ich komme.

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