Psychologie des Pokers und Glücksspiels richtig lernen Teil I

Eines Maimorgens Mitte der achtziger Jahre wurden die Stammgäste des Cafes im Golden Nugget Hotel and Casino in Las Vegas mit einem ungewohnten Anblick konfrontiert: Eine einsame Gestalt an der Frühstücksbar las bei Haferbrei und Waffeln ein Penguin-Classic-Taschenbuch mit schwarzem Buchrücken. Ich hatte mich bei meinem jährlichen Geburtstagsbesuch zu einem Experiment entschlossen. Ausgestattet mit dem Auftrag einer britischen Zeitung, eine ausführliche Betrachtung über die Psychologie des Glücksspiels zu schreiben, hatte ich beschlossen, noch einmal Dostojewskis Erzählung Der Spieler zu lesen. Doch dann verschob ich meine Lektüre bis zu dieser Reise, um zu sehen, ob sich der Text in der Glücksspielhauptstadt der Welt irgendwie anders las. Las Vegas ist zwar nicht gerade Wiesbaden, aber doch zweifellos das Roulettenburg unserer Zeit.

Drei Barhocker neben mir saß eine weitere einsame Gestalt und steckte sich über ihrem x-ten schwarzen Kaffee eine Zigarette nach der anderen an. Anscheinend war er einer jener Zocker, die im Laufe einer langen Nacht vom Glück verlassen werden und dann über die Wahrheiten des Lebens grübeln, ehe sie sich wieder dem vor ihnen liegenden Tag zuwenden. Nor-malerweise hätte ich mich über seine Gesellschaft gefreut, da das lockere Miteinander in einem Imbiss für mich zu den schönsten Ausprägungen des American Way of Life zählt. In England würde ein Fremder, der in einem Restaurant ein Gespräch anzuknüpfen versucht, höchstwahrscheinlich verhaftet werden; in den Vereinigten Staaten ist es dagegen fast illegal, dies nicht zu tun. Heute aber wollte ich in Ruhe mein Buch lesen und vergrub daher meine Nase darin, in schamloser britischer Missachtung der hier in den Staaten herrschenden moralischen Gepflogenheiten.

Am Lesen, wie? Ich hätte wissen müssen, dass mein Versuch zum Scheitern verurteilt war. Der Mann ging das Gespräch so direkt wie unausweichlich an. Was lesen Sie denn da?
Ach, bloß ein Buch über Glücksspiel. Instinktiv wollte ich lieber als Spieler denn als Intellektueller gelten.
Ach ja? Wie heißt es denn? Ich bin übrigens Harry.
Tony. Wir beugten uns vor und gaben einander die Hand. Es heißt Der Spieler. Ich zeigte ihm den Schutzumschlag und hoffte, dass dieser mich in den Augen meines Gegenübers auf-werten würde. Allerdings sagte mir mein Gefühl, dass der gute Harry mit dem Namen des Autors nichts anfangen konnte.
Der Spieler? Kenn ich nicht. Ein neues Pokerbuch? Von wem ist es?

Nein, es ist eigentlich kein Pokerbuch, Harry, es ist ein Roman. Na ja, eine Erzählung. Von einem Typen namens Dostojewski … Nichts deutete darauf hin, dass er den Namen schon einmal gehört hätte. Ein Russe, half ich nach. Ein Roulette- Freak. Mittlerweile tot. Ein Roter, wie? Ein toter Roter? Er lachte, und ich stimmte ein. Taugt es was? Ich überlegte noch, wie ich auf diese Frage antworten sollte, als mir ein Dritter zu Hilfe kam. Ein einsamer Koffeinsüchtiger saß uns gegenüber und hatte unseren Wortwechsel offensichtlich interessiert verfolgt und auf ein Stichwort gewartet, bei dem er sich einschalten konnte. Dostojewski? Haben Sie Dostojewski gesagt? Sie lesen Dostojewski in Las Vegas?

Ich nickte zustimmend, woraufhin Harry sich im Gefühl, dass er hier etwas verpassen könnte – vielleicht sogar ein geheimes neues Zahlensystem – zu dem Frager vorbeugte. Was ist daran so komisch?, wollte er von ihm wissen. Na ja, Dostojewski, das ist schwere Kost. Richtige Literatur. Nicht gerade das, was die Leute hier in Vegas normalerweise lesen. Diese tiefe Wahrheit sorgte dafür, dass sich jede weitere Diskussion verbot; also hüllten wir uns eine Weile in Schweigen. Irgendwann griff der neu Hinzugekommene seinen Gedanken wieder auf und wandte sich mit größter Ernsthaftigkeit an mich. Wissen Sie, sagte er, ich würde eine Wette darauf abschließen, dass Sie der einzige Mensch in der Geschichte sind, der je Dostojewski in Vegas gelesen hat.
Tatsächlich?, schaltete sich Harry mit leuchtenden Augen ein. Welche Quoten würden Sie dafür annehmen?

Der hoffnungsvolle Harry bescherte mir den optimalen Einstieg für meinen Artikel. Verdientermaßen ist er nun als mein Anwärter auf die definitive Las-Vegas-Anekdote verewigt – eine Stadt, in der nichts definitiv oder endgültig ist und in der jedes Erlebnis, jede Story und jede Statistik noch übertroffen werden kann. Lebender Beweis dafür sind die Binions. Als ich ein halbes Jahr nach der World Series wieder hier eintraf, um meine ersten amerikanischen Turniere als Pokerprofi zu spielen, errichteten Bauarbeiter oben auf dem Horseshoe gerade ein neues, zwei Millionen Dollar teures Neonschild. Es war das größte der Stadt und verbrauchte mehr Energie als jede andere Lichtquelle der Welt. Binions Horseshoe hatte soeben seinen unmittelbaren Nachbarn, das Mint Hotel und Casino, aufgekauft – und diese Transaktion war umgehend durch das Eintreffen eines Hubschraubers publik gemacht worden, der das alte Mint-Symbol vom Dach des fünfundzwanzigstöckigen, einhundert Meter hohen Hotelturms holte und es durch ein zehn Meter hohes, elektronisch drehbares goldenes Hufeisen ersetzte.

Nun umfasste das Horseshoe einen kompletten Häuserblock in Glitter Gulch. Als die Mauer zwischen den beiden Gebäuden aufgestemmt wurde, schien es, als sei ein Damm gebrochen. In der zum Mint gehörigen Seite des Komplexes, bis dahin eher dünn besiedelt, wimmelte es binnen kürzester Zeit vor Leben, so als hätten all diese Zocker noch nie zuvor ein Casino von innen gesehen. Und um noch mehr Leute von der Straße hereinzuholen, zementierte Jack Binion im wahrsten Sinne des Wortes diese lukrative Fusion: Er ließ an der Schnittstelle der beiden Gebäude ein 150 000 Dollar teures Plexiglas-Paneel mit lebenden Lichtern in den Gehweg ein – Herz, Karo, Kreuz, Pik und natürlich ein weiteres goldenes Hufeisen. All diese Symbole blinkten und flimmerten in Richtung Eingang, um Passanten von ihrem Kurs abzubringen und wie hypnotisiert in den Spielsaal zu locken. Wir halten uns an Benny Binions ursprüngliches Konzept, sagte dessen Sohn bei einer seiner seltenen öffentlichen Auftritte – was offiziell in etwa bedeutete: So was werdet ihr Jungs daheim in Iowa nicht finden.

Und was bedeutete es inoffiziell? Jack Binion erinnert sich mit einer gewissen Wehmut an die Zeiten, in denen sein Vater als Alkoholschmuggler in Dallas seine Dollars verdiente. Benny hatte es nie wirklich mit Zahlen. Er brannte Schnaps gallonenweise und zählte die Dollars. Aber er hatte einen Partner, der die Bestellungen im Auge behielt und sich allgemein um die Buchhaltung kümmerte. Na ja, und am Ende war da irgendwie nicht so viel Geld, wie es nach Bennys Vorstellung hätte sein sollen. Also hat er eines Tages seinen Partner rausgeworfen. Für Benny zählten nur Gallonen und Dollars. Das hat mein Dad immer so gehalten, und auch ich halte es so. Doch der offizielle, öffentliche Jack bediente sich nach dem Erwerb des Mint der Art von Glamour, die Vegas berühmt gemacht hat. Wir Binions hoffen, dass der Laden euch umhaut!

Die Pokerspieler scharrten jedenfalls schon mit den Hufen. Doch dann hörte man von der anderen Straßenseite eine Neuigkeit, die noch umwerfender war als alles, was sich die Binions je hätten einfallen lassen können: Steve Wynn, der Besitzer des Golden Nugget, schloss den Kartensaal des Casinos. Ich hatte dies eher zufällig erfahren, nachdem ich in meinem üblichen Geisteszustand, einer Mischung aus Jetlag und Vorfreude, von meiner kostenlosen Suite zum neuen Horseshoe-Turm spaziert war und beim Anblick des Golden Nugget eine Sinnestäuschung vermutete: Wo einst die Pokergötter Hof gehalten hatten, standen nun reihenweise hochmoderne, schrille, hässliche Einarmige Banditen. Es kam mir so vor, als hätte ich mich nur einen Moment umgedreht, und aus dem Buckingham-Palast war ein Supermarkt geworden.

Wo ist denn der Kartensaal?, stotterte ich in Richtung eines vorbeigehenden Saalchefs. Verschwunden, sagte er bloß. Versuchen Sie’s auf der anderen Straßenseite. Genau von dort kam ich gerade, aus dem Binion’s Horseshoe, wo man seit jeher so clever gewesen war, nur drei Wochen pro Jahr Pokerrunden auszurichten. Schließlich liebten Benny und Jack den wunderbaren Klang der Spielautomaten – und nicht das Stöhnen und Ächzen knickriger Pokerspieler, die ihr Geld lieber untereinander riskierten, als es dem Haus in den Rachen zu werfen.

Nach einem schnellen Sprint zurück über die Fremont Street fand ich heraus, dass der Kartensaal des Nugget wie bei einer Organtransplantation tatsächlich auf unheimliche Weise im Horseshoe neu aufgebaut worden war, direkt neben dem Durchbruch, den Jack zum Mint hin hatte vornehmen lassen. Sogar die Dealer waren dieselben, ebenso wie die Floormen, die Saalchefs und – wie ich bald feststellen sollte – auch die Tische und Stühle. Die Binions hatten einen Teil ihres neuen Imperiums dazu verwendet, von Steve Wynns überraschendem Beschluss zu profitieren. Dieser wirkte weniger überraschend, als durchsickerte, dass Wynn einen größeren und besseren Kartensaal eröffnen wollte, der nach wie vor von Eric Drache geleitet werden sollte und der in einem neuen Hotel-Casino-Komplex auf dem Strip geplant war. Der etwa 600 Millionen Dollar teure Bau, den Wynn gerade direkt neben dem Caesars Palace hochziehen ließ, sollte binnen eines Jahres als größtes Hotel der Welt eröffnen, und zwar – was für eine Überraschung – unter dem Namen Mirage. Geplant waren unter anderem ein feuerspeiender Vulkan neben dem Haupteingang und ein Haifischbecken im Empfangsbereich. Bis dahin hatte Wynn die Pokerhoheit in der Stadt an die Binions abgetreten.

Nach Malta war ich innerhalb eines Monats viermal über den Atlantik und zurück geflogen, ohne eine einzige Partie Poker zu spielen. Zwei Lesereisen für zwei unterschiedliche Bücher, jeweils von einer Küste der USA bzw. Kanadas zur anderen, hatten meine Zweifel im Hinblick auf den Umfang meines Spielkapitals nur verstärkt. Letztlich musste mir die Puppe auf ihre unnachahmliche Art und Weise verklickern, was für ein Trottel ich doch war. Vergiss die Selbstzweifel, sagte sie mit Nachdruck. Damit kannst du anfangen, wenn du alles verloren hast. Das war ein Argument, dem ich mich nicht widersetzen konnte – zumal sie danach mit einem Geniestreich antwortete: einem Flugticket von London nach Vegas (und zurück, falls ich darauf bestand) als mein Weihnachtsgeschenk. Ich konnte mich darauf verlassen, vom Horseshoe umsorgt zu werden, so dass mich die eigentliche Reise kaum noch Geld kosten würde.

In Anbetracht der amerikanischen Zollgesetzgebung, die besagte, dass man bei der Einreise Beträge von 10 000 Dollar und mehr angeben musste, beschloss ich, genau 9 999 Dollar auf meinen kostenlosen Flug nach Vegas mitzunehmen. Dank meiner Puppe und Jack Binion war ich daher schon ein Gewinner, noch ehe ich die vorweihnachtlichen Goldfelder des Golden Nugget erreichte. Dort sollte ein neues Turnier an die Stelle des ehemaligen Grand Prix of Poker treten, der traditionell als das wichtigste Ereignis zur Mitte der Pokersaison galt und an Bedeutung nur von der World Series übertroffen wurde. Mit Steve Wynn und dem Nugget im Übergangsstadium war der Grand Prix in diesem Jahr durch die Binion’s Hall of Farne Poker Classic ersetzt worden, ein Turnier zu Ehren jener kleinen Gruppe von Auserwählten, die in die Poker Hall of Fame aufgenommen worden waren.

Diese Ruhmeshalle der besten Pokerspieler aller Zeiten war 1 979 gegründet worden, um der immer populäreren World Se-ries zusätzlichen Glanz zu verleihen und um den Anspruch des Horseshoe als Heimat des Pokerns um die höchsten Einsätze weltweit zu festigen. Wenn dort den Rest des Jahres über kein Poker gespielt worden war, hatte dies schlicht und ergreifend unterstrichen, dass das Binion’s kein Ort für kleine Fische war und die echten High Roller gerade woanders spielten – wahrscheinlich damit beschäftigt, ihre Teilnahmegebühren für das nächste Jahr zu ergattern. Aber die Zeiten änderten sich eben. Nun öffnete das Horseshoe also seine Pforten den kleineren Spielern, die Steve Wynns rücksichtsloser Imperialismus in die Flucht geschlagen hatte. Und zum Beweis dafür hatte man ein völlig neues Turnier aus der Taufe gehoben, gewidmet dem Gedenken an die größten Pokerspieler aller Zeiten.

Die Aufnahme in die Ruhmeshalle des Pokerns basiert auf fünf gewichtigen Kriterien – und viele bemühen sich um Ein-lass, doch nur wenige werden auserwählt. Die in Frage kommenden Kandidaten müssen hervorragendes Pokerspiel geboten haben … um hohe Einsätze … gegen anerkannt erstklassige Mitbewerber, und sich dabei den Respekt ihresgleichen erworben haben. Außerdem müssen die vom Komitee Ausgewählten über lange Jahre ein konstant hohes Spielniveau gezeigt haben. Von den sieben Gründungsmitgliedern der Poker Hall of Fame lebte nur noch der Grand Old Man, Johnny Moss, nach wie vor als dreifacher Weltmeister unerreicht.

Das Spektrum der anderen reichte von Moss’ berühmtestem Gegner, Nick der Grieche Dandalos, bis zu Wild Bill Hickok. Dieser ging 1 876 in die Annalen der Pokergeschichte ein, als er mit zwei Paaren auf der Hand – Asse und Achten, seitdem als Dead Man’s Hand bekannt – von hinten erschossen wurde. Ihnen leisten drei der größten Edelzocker der Neuzeit Gesellschaft: Red Winn, der Inbegriff des Allround-Pokerspielers, Sid Wyman, ein High-Stakes-Spieler, der mit dazu beitrug, dass sich Las Vegas zur Glücksspielhauptstadt der Welt entwickelte, und Felton Corky McCorquodale, ein klassischer No-Limit-Spieler, der 1 963 Texas Hold’em in Vegas einführte. Der Letzte dieser illustren Runde war Edmond According to Hoyle, der zwar nie selbst Poker spielte, aber die meisten der Kartenspielregeln festlegte, die seit dem 18. Jahrhundert Bestand haben.

Nach der Gründung der Hall of Fame wurde in jedem Jahr ein weiterer Spieler aufgenommen, normalerweise posthum. Seit 1 980 waren in chronologischer Reihenfolge Pokerlegenden hinzugekommen wie Blondie Forbes, Bill Boyd, Tom Abdo, Joe Bernstein, Murph Harrold, Red Hodges und Henry Green. 1 987 durfte Walter Clyde Puggy Pearson wie Bill Boyd vor ihm noch zu Lebzeiten den Unsterblichen Gesellschaft leisten, ebenso wie im Folgejahr ihr Freund und Zeitgenosse Doyle Texas Dolly Brunson. Porträts dieser sechzehn Pokergiganten zieren die Wände des neuen Kartensaals im Horseshoe, heute die offizielle Heimat der Poker Hall of Fame.

Unter ihren gestrengen Blicken, immer noch leicht schwindlig von all diesen unerwarteten Entwicklungen, machte ich mich daran, meiner festen Tradition am ersten Abend in Vegas zu huldigen: Unter Jetlag leidend, mit Wein abgefüllt und eigentlich nur zum Schlafen zu gebrauchen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, an einem 150-Dollar-Satellite für das am nächsten Tag stattfindende 1500-Dollar-Limit-Omaha-Turnier teilzunehmen. Wieder einmal spielte ich mit dem Schwung und der Aggressivität eines Mannes, der gar nicht richtig weiß, wo er ist, tief in seinem Inneren aber eine Ahnung hat, wie man Poker spielt, ja sogar Chips riffeln kann. Als acht von zehn Teilnehmern eliminiert waren, begann ich den Heads-up – den Zweikampf der letzten beiden Spieler am Tisch – mit 500 Dollar mehr als mein Kontrahent. Es sah so aus, als könnte ich meinen eigenartigen Einstieg in die World Series im Mai wiederholen.

Also lehnte ich die von meinem Gegenspieler angebotene Aufteilung des Gewinns ab – und brachte es dann fertig, gegen ihn zu verlieren. Fragen Sie nicht, wie. Es war derart ärgerlich, dass ich umgehend in ein zweites Satellitenturnier einstieg und diesmal als Erster den Tisch verlassen musste. Ab ins Bett also, 300 Dollar in den Miesen und wütend auf meine eigene Nachlässigkeit. Beim 1500-Dollar-Omaha-Turnier am nächsten Tag jedoch spielte ich wie ein Besessener und wurde am Ende Dreißigster von 144 Teilnehmern. Zwar kam ich damit erneut nicht ins Geld – der Pot von 70 800 Dollar wurde unter den ersten Neun aufgeteilt -, doch mir erschien dies als ein achtbares Ergebnis für mein erstes Turnier in Vegas seit der World Series und ließ Gutes für die anstehenden Prüfungen erhoffen. Allerdings war die Glücksgöttin auf meiner Seite gewesen, als ich sie benötigte: Nicht weniger als sechs Mal hatte ich All-in gehen müssen, und fünf Mal hatte ich es überlebt.

An meinem Tisch saß der Grand Old Man persönlich, Johnny Moss, und widerwillig geriet ich gleich zu Anfang in eine Auseinandersetzung mit ihm. Bei zwei Herz auf dem Tisch und mit A-4 von Herz auf der Hand sah ich erstaunt, wie der Mann gegen mich setzte. Ziemlich beklommen erhöhte ich bis ans Limit. Das hier war Omaha, nicht Hold’em: Wenn Moss gegen einen möglichen Herz Flush mit hohem Ass setzte – den er wohl richtig gelesen haben dürfte -, dann hatte er vielleicht bereits Drillinge, und seine Hand musste, anders als meine, noch Verbesserungsmöglichkeiten aufweisen. Auf dem Tisch konnte immer noch ein Paar erscheinen, und so war jederzeit ein Full House möglich. Am Dealer vorbei – Moss saß links vom Kartengeber auf Platz Eins, ich rechts von ihm auf Platz Neun – richtete der Grand Old Man seine Echsenaugen auf mich; in ihnen lag strenge Missbilligung gegenüber der Kühnheit eines jungen Spunds.

Obwohl der Dealer teilweise die Sicht verdeckte, kam ich mir unter Moss’ Blicken vor wie ein einziges großes verräterisches Anzeichen. Doch das Schicksal meinte es gut mit mir: Obwohl das fünfte Herz auf dem Turn auftauchte und auch mit der letzten Gemeinschaftskarte kein Paar Gestalt annahm, ging Moss bis zum Schluss jeden meiner Einsätze mit, um schließlich einen Herz Flush mit hohem König aufzudecken. Seinem Blick nach zu urteilen, würde der große alte Mann meine Unverschämtheit nicht vergessen. Er wusste, dass ich ein Amateur war, der sich nur als Profi verkleidet hatte, und er wusste auch, dass sich meine Unerfahrenheit früher oder später bemerkbar machen würde.

Leider behielt er damit Recht. Es war etwa 19.00 Uhr, nach sechs Stunden Spielzeit, als ich den schweren Fehler beging, mich erneut mit Moss auf ein Duell einzulassen. Dieses Mal schickte er mich mit einem (man muss es sagen) glücklichen Straight auf dem River vom Tisch. Es war mir leider nicht gelungen, mich nach meinen drei Königen vom Flop zu verbessern. Mein Beitrag zu seinem Chipstapel machte Moss zum Zeitpunkt meines Abgangs zum Führenden des Turniers; am Ende jedoch verpasste er die Plätze im Geld. Die 35 000 Dollar Siegprämie strich letztlich Jose Rosenkrantz ein, Mitglied einer Gruppe munterer Costaricaner, die seit kurzem in den Edelzocker-Kreisen von Vegas für Furore sorgten. Zwar gab Jose als Beruf Textilfabrikant an und verkündete vor der Presse: Es ist phantastisch!

Es ist wie ein Traum! Ich liebe Amerika!, doch nur wenige Vegas-Größen hätten Rosenkrantz als etwas anderes als einen Pokerprofi bezeichnet. Moss hingegen betrachtete ihn nach wie vor als Hemdenschneider. Verdammte Amateure, lautete sein vernichtendes Urteil. Ich hab’ mit dem Kerl gespielt, und ich weiß, dass er nicht den blässesten Schimmer von Omaha hat. Das bringt mich auf die Palme … Hey, selbst du könntest diese Südamerikaner schlagen. Zum Beweis zahl’ ich dir den Eintritt für das nächste Turnier. Mit diesen Worten machte Mr. Moss kehrt, um sich irgendwo in vertrauter Runde abzureagieren. Hatte er wirklich gesagt, er wolle mir meine nächste Teilnahmegebühr bezahlen? Dieses offensichtliche Versprechen versetzte mich während der nächsten Stunden in Hochstimmung. Leider muss ich jedoch festhalten, dass er es nicht einlöste und ich es für ziemlich billig gehalten hätte, ihn darauf festzunageln.

Ausgelaugt vom langen Turniertag, verspürte ich das Bedürfnis nach ein wenig schnellerer Action. In Situationen wie diesen bin ich extrem gefährdet, da meine Ungeduld sich als ziemlich kostspielig erweisen kann. Und wenn in so einem Moment die Warteschlange vor den Hold’em- oder Omaha-Tischen mit niedrigen Limits besonders lang ist, wende ich mich viel lieber der sofortigen Befriedigung an den Blackjack-Tischen zu, deren hohe Limits plötzlich äußerst verführerisch wirken. Jahrelang habe ich mir in Vegas mein Taschengeld beim Blackjack verdient: Ich schätze mal, ich kann dort jederzeit ein paar hundert Dollar für Taxis, Essen usw. gewinnen. Allerdings hat das Ganze einen Haken: Man muss beim Blackjack einen größeren Prozentsatz seines Spielkapitals riskieren als beim Pokern.

Setzt man sich jedoch bescheidene Ziele, muss schon ein extrem schlechter Lauf an Karten daherkommen, damit man diese nicht erreicht. Ich habe Freunde, die professionelle Blackjack-Zähler sind, ich bei einem aus sechs Decks bestehenden Schuber jede vorkommende Karte merken können und ihre Spielweise darauf abstimmen. Ich selbst kann mir bestenfalls die Zehner und Bildkarten merken. Und das ist auch gut so, denn oben an der Decke jedes Casinosaals hängen Kameras, mit deren Hilfe geübte Augen diese Counter entdecken und aus dem Saal werfen lassen, bevor sich die Gewinnchancen allzu sehr zu ihren Gunsten ändern.

Ansonsten ist mein System vergleichsweise beschämend amateurhaft. Je nach Gemütslage und dem Zustand meines Spielkapitals besteht es darin, entweder 500 oder 1000 Dollar in 50- oder 100-Dollar-Schritten zu setzen, äußerst vorsichtig zu spielen und aufzuhören, sobald ich meinen ursprünglichen Stapel verdoppelt habe. Geringere Beträge bringen mir nicht den Kitzel, den ich brauche, um genug Selbstdisziplin walten zu lassen. Für mich ist Blackjack im Gegensatz zu Poker kein Spaß – und ich spiele es auch nicht aus Spaß, sondern ausschließlich um Geld. Am heutigen Tag fing ich planmäßig mit 1 000 Dollar an, spielte jeweils 100 Dollar pro Runde und hörte sofort auf, als ich es auf 2 000 Dollar gebracht hatte.

Wenn man nur ein paar Tausender in der Kasse hat und noch eine Woche Poker vor einem liegt, erfordert ein solches Vorgehen eiserne Nerven. Zu einem Zeitpunkt war ich von meinen anfänglichen 1 000 Dollar auf 300 Dollar runter. Das ist nicht besonders ungewöhnlich. Aber ich habe feste Regeln, wie ich mit einem solchen Ausrutscher umgehe, denn Blackjack ist das einzige Casinospiel, bei dem ich mich gelegentlich zu Dummheiten verleiten lasse. Hätte ich die 1 000 Dollar verloren, hätte ich sofort aufgehört und mich daran gemacht, alles an den Pokertischen mit niedrigen Einsätzen zurückzugewinnen – was ein, zwei Tage dauern kann, verglichen mit den zehn oder fünfzehn Minuten, die es zum Verlieren einer solchen Summe braucht. Die andere lebensnotwendige Regel besteht darin, sein Geld zu nehmen und zu gehen, sobald man den ursprünglichen Einsatz verdoppelt hat. Blackjack ist ein so schnelles Spiel – vor allem dann, wenn man auch noch versucht, die Karten nachzuhalten -, dass es einen zu falschen Entscheidungen verleiten kann.

Eine wichtige Motivation für einen Gewinn am heutigen Tag war ein glitzerndes Sweatshirt, das ich im Schaufenster des wahnwitzig verlockenden Geschenkeladens im Golden Nugget entdeckt und mir sofort als kleines Weihnachtsgeschenk für die Puppe vorgemerkt hatte. Natürlich hätte ich die Kaufsumme von 178 Dollar, die mir nach vierundzwanzig Stunden in Vegas wie ein Taschengeld vorkam, schlicht und einfach bar bezahlen können; doch die Genugtuung, das Shirt zwanzig Meter entfernt an den Blackjacktischen gewonnen zu haben, erhöhte seinen Wert um mehr als das Doppelte. Nachdem ich es in meinem Hotelzimmer in Sicherheit gebracht hatte, besaß ich immer noch genug Geld für ein paar Runden am $ 10/$ 20-Tisch – falls dort jemals ein Sitz frei wurde – und für eine längst überfällige Essenseinladung, die ich zwei Freunden schuldete.

Man kommt in Las Vegas derart einfach an eine kostenlose Mahlzeit, dass es einiger Anstrengungen bedarf, für ein Essen zu bezahlen. Zunächst einmal muss man sein Hotel zum ersten Mal seit Tagen verlassen (und so seinen Platz in diversen Pokerschlangen verwirken), um wirklich das Gefühl zu bekommen, dass man bewusst ein Restaurant aufsucht. Zweitens muss man seine Gäste bitten, das gleiche Opfer zu bringen. Falls eine solche Verabredung Stunden oder sogar Tage im Voraus getroffen wurde, ist ihr tatsächliches Zustandekommen völlig abhängig von der Situation des Spiels, in dem Gastgeber oder Gäste zum vereinbarten Zeitpunkt stecken. Ein Essen mag seit Wochen im Terminkalender stehen und seine Teilnehmer können Tausende Kilometer dafür geflogen sein, und dennoch wird es als selbstverständlich hingenommen, dass jemand, der entweder übel in einer Partie feststeckt oder aber mit einem heißgelaufenen Touristen gesegnet wurde, ganz andere Prioritäten setzt.

Und wenn es tatsächlich alle zu einem Restaurant in den Außenbezirken von Vegas schaffen, ist diese Anstrengung doppelt so hoch einzuschätzen wie die Geste, die man durch das Übernehmen der Rechnung machen möchte: Selbst ein noch so nobles Dinner kostet weniger als das Sweatshirt der Puppe, und noch weniger, wenn man es aus der Perspektive des ewigen Auf und Ab beim Poker betrachtet. In einer Filiale von Cosmo’s in Uptown diskutierte ich bei einem Teller brutzelnder Muscheln mit Eric Drache und Henri Bollinger über die Zusammenarbeit von Spielern und Dealern, über markierte Karten und andere Schummeleien in den Kartensälen. Meistens ging es dabei um die Pokerclubs in Kalifornien. Als Manager des Kartensaals im Golden Nugget war es Erics Aufgabe, derartige Unregelmäßigkeiten aufzudecken und zu ahnden – obwohl er kaum jemals eingreifen musste. Nur sehr selten gibt es dort einen Dealer, der mit einem Spieler gemeinsame Sache macht und ihn die Karten sehen lässt, die er den Gegenspielern austeilt.

Dafür kursieren in Las Vegas zahllose Geschichten über gelegte Karten und abgekartete Spiele in aller Welt. Anscheinend ist es eine traurige Wahrheit, dass sich ein Fremder nur an wenige Spieltische dieser Welt setzen kann in der absoluten Gewissheit, dass bei dieser Partie alles mit rechten Dingen zugehen wird. Für einen Profi ist es natürlich eine Selbstverständlichkeit, in dieser Hinsicht auf sich aufzupassen; nach meiner Erfahrung kann man am ehesten in den öffentlichen Kartensälen von Vegas auf ein wirklich ehrliches Spiel vertrauen. Auch die Fragen der Etikette kamen zur Sprache – beim Pokern eine stillschweigende Ergänzung der Regeln. Nur wer etwa hundert Jahre lang am Pokertisch gesessen hat, beherrscht den korrekten Ablauf bis in die kleinste Nuance.

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