Poker-Psychologie und andere interessante Geschichten darüber Teil II

Doch das für mich beste Finale wäre gewesen, wenn der Sieger den Verlierer aus dem alles entscheidenen Pot herausgeblufft hätte: Howard hätte mit seinen Einsätzen Cincinnati Kid dazu bringen müssen, mit einem Full House auf der Hand auszusteigen, um danach ein deutlich schlechteres Blatt aufzudecken und so noch Salz in seine Wunden zu streuen. Auf diese Weise werden große Geister am Pokertisch gebrochen. Und das ist auch der eigentliche Zweck dieses Spiels: Man muss mit jeder zur Verfügung stehenden Kartenkombination versuchen, den Willen der anderen am Tisch seinem eigenen Willen zu unterwerfen. Kein Pokerspieler hat sich je dadurch Respekt verdient, dass er ein gutes Blatt nach dem anderen auf die Hand bekam – die besten Spieler sind diejenigen, die mittelmäßige Karten in Siegblätter verwandeln, indem sie die psychologische Oberhand über ihre Gegner gewinnen.

Auf diesem Niveau – egal ob im Film oder beim Tuesday Night Game – werden Karten und Chips zur reinen Nebensache; sie sind nur noch Zubehör, das man zur Durchführung des Spiels benötigt. Geld ist dann lediglich ein Mittel, um den Spielstand anzugeben. Auf diesem Niveau – und darin waren Al und ich uns seit zwanzig Jahren einig – macht Poker Freude. Aber wer das Spiel auf diese Weise genießt, der setzt sich auch ernsthaften Gefahren aus. Jede Hand kann zu einer echten Herausforderung für das Ego werden, für die Brillanz eines Individuums – besonders bei den Dealer’s-Choice-Abenden der Dienstagabendrunde, wo die Pokervarianten ständig wechseln, weil der Geber die jeweils zu spielende Variante ansagt und dabei natürlich immer diejenige aussucht, in der er am stärksten ist.

Ein Spieler, der gerade einen Lauf hat, wird es eher als Zeichen der Schwäche denn als Zeichen der Stärke ansehen, eine Hand zu passen. Und letztendlich wird er verlieren – egal, wie viele Hände er davor gewonnen hat. Es gibt eine einfache Pokerwahrheit, die von begeisterten Amateurspielern häufig vergessen wird. Sie besagt, dass nicht derjenige als Sieger aus einem Turnier hervorgeht, der die meisten Pots gewinnt – Sieger ist der Spieler, der das meiste Geld gewinnt. Ein beständiger Gewinner wird weniger Pots spielen als ein Mann, der am Pokertisch sitzt, um sich zu amüsieren. Er wird sich ein dickes Fell gegen das irritierende Gemurmel der anderen Spieler zulegen, darunter auch seine Freunde, die ihn mit zunehmend feindseligen Beschimpfungen überhäufen: Indem sie ihm seinen Erfolg vorwerfen, schieben sie die Schuld für ihr eigenes Versagen von sich.

Doch dem Spieler wird sein Erfolg nicht peinlich sein, und er wird den Verlierern daher nicht aus schlechtem Gewissen durch ein paar zweifelhafte Einsätze die Chance einräumen, ihr Geld zurückzugewinnen. Egal wie hoch sich sein Chipstapel auftürmt, wird er weiterhin eiserne Selbstdisziplin zeigen und warten, warten und noch länger warten, bis die richtigen Karten, die richtigen Quoten, die richtige Position und die richtige Situation gekommen sind. Doch vor allem ist der beständige Gewinner als Mann von gefestigtem Charakter in der Lage, sich eine nur äußerst wider-strebend eingeräumte Wahrheit über das Pokerspiel einzugestehen: dass Pokern ziemlich langweilig sein kann – und es hin und wieder vermutlich auch sein sollte. Und nirgendwo auf dieser Welt ist dieses Spiel langweiliger als in den Londoner Clubs, wo meine Karriere als Pokerprofi ihren Anfang nehmen sollte.

Der Londoner Stadtteil Mayfair – heute eines der elegantesten Viertel der britischen Hauptstadt, mit den höchsten Mietpreisen – gehörte ursprünglich zu den berüchtigtsten Ecken der Stadt. Auf dem Gelände von Marble Arch stand einst der Galgen von Tyburn, wo bis ins späte 18. Jahrhundert öffentliche Hinrichtungen riesige Menschenmengen anzogen. Fünfhundert Jahre zuvor, während der Regierungszeit von König Edward I., erhielt das Gebiet seinen Namen von den lebhaften Vieh- und Getreidemärkten, die hier alljährlich in der ersten Maiwoche stattfanden und bei denen auch Spenden für die Patienten des nahegelegenen Leprakrankenhauses gesammelt wurden.

Was als schlichter einwöchiger Viehmarkt begann, entwickelte sich unter der Herrschaft von König James II. zu einer zwei Wochen dauernden Festlichkeit, die unter anderem alle Adligen der Stadt anlockte. Königin Annes puritanische Einstellung legte dem Ganzen ein wenig die Zügel an, doch bereits unter König George III. erblühte der Markt zu neuem Leben, bis der Earl of Coventry, der in der Nachbarschaft seine Stadtresidenz hatte, sich über den Lärm beschwerte. Das Einschreiten seiner Lordschaft scheint das Ende einer 500-jährigen Tradition guten Essens, Trinkens, Tanzens, Spielens und Belustigungen aller Arten eingeläutet zu haben.

Aber alte Traditionen sind nur schwer totzukriegen. Zwei Jahrhunderte später liegt Great Brookfield – das fünf Hektar große Wiesengelände, auf dem die Festivitäten einst stattfan-den – zwar unter den Straßen des heutigen Mayfair begraben, doch ist es nunmehr der Schauplatz einer mondänen, zeitgenössischen Version jener uralten Bräuche. Auf einem Gebiet von nur zwei Quadratkilometern befinden sich Londons eleganteste Spielclubs – Crockford’s, Aspinall’s, The Clermont und The Ritz -, in denen die reichsten Spieler der Welt verkehren. Hier hielt einst Beau Brummei Hof, hier übten die Prinzen von Wales ihr droit du seigneur aus, hier kam Lord Lucan mit einem Mord davon. Im Inneren dieser Vergnügungstempel kann man in luxuriösem Ambiente das beste Essen Londons genießen, ehe man sein Glück beim Roulette, Black Jack oder Punto Banco (einer Variante des Bakkarat) versucht. Jeden Abend werden hier unter der zeitlosen Pracht der Kristalllüster gewaltige Vermögen gemacht und – sehr viel häufiger – verloren.

Das Spiel a l’anglaise war die Erfindung von William Crockford, dem Vater der modernen Buchmacherei, der der englischen Aristokratie des 19. Jahrhunderts derartig viel Geld abnahm, dass einige Adelsfamilien dem Vernehmen nach noch heute darunter leiden. Der Sohn eines Fischhändlers erblickte 1 775 das Licht der Welt, wuchs in Schmutz und Elend auf und war mit der unheimlichen Fähigkeit gesegnet, die Odds und Quoten schneller und genauer berechnen zu können als jeder andere seiner Zeitgenossen. Dieses Talent nutzte Crockford, der als Father of Hell and Hazard (Vater der Hölle und des Hasardspiels) bekannt wurde, auf einträgliche Weise: Schon bald eröffnete er in ganz London Spielclubs, wobei der berühmteste – natürlich das Crockford’s – 1 828 an der St. James’s Street seine Pforten öffnete.

In dieser eleganten Regency-Stadtvilla dinierte die Creme de la Creme der Londoner High Society luxuriös, ehe man Crockfords Taschen mit weiteren Banknoten aus dem Familienerbe füllte. Als Crockford sich 1 840 zur Ruhe setzte – nachdem er eine ganze Generation der britischen Oberschicht ruiniert hatte -, ging das Gerücht, dass er sich wie ein Indianerhäuptling aus einem Jagdrevier zurückzog, in dem es für seinen Stamm nicht mehr genügend Wild gab. Nun sollte man meinen, die Menschheit hätte in rund eineinhalb Jahrhunderten das ein oder andere dazugelernt – wie etwa, dass die Chancen bei allen Casinospielen immer zugunsten des Casinos stehen.

Doch die Fähigkeit des Menschen, diese schlichte Wahrheit – die einige von Englands berühmtesten Adelshäusern bereits vor 150 Jahren an den Bettelstab brachte – einfach zu ignorieren, führte dazu, dass die britischen Casinos Ende der achtziger Jahre einen Gesamtgewinn von nahezu 250 Millionen Pfund im Jahr machten – oder rund 20 Prozent allen Bargelds, das gegen Spielchips eingetauscht wurde. Im Großbritannien der Thatcher-Regierung, bei der das Geldmachen fast schon zur Bürgerpflicht wurde, ist es jedoch nicht mehr die einheimische Bevölkerung, die die Rouletteräder von Londons Casinos am Laufen hält. Wenn diese Clubs auch immer noch den traditionellen Lebensstil der englischen Oberschicht pflegen, so scheint es doch, dass die Briten heutzutage weniger spielversessen sind. Durch das Öl reich gewordene Saudis, Libanesen, Türken, Griechen und Malaysier haben sich ihren Reihen nicht nur angeschlossen, sondern sie teilweise sogar ganz daraus verdrängt.

Die Profite der britischen Spielclubs lägen noch viel höher, wenn sie sich nicht mit einem Heer absurd strenger Regeln herumschlagen müssten. So ist es englischen Casinos beispiels-weise gesetzlich untersagt, irgendetwas zu unternehmen, das die Spielleidenschaft fördern oder anstacheln könnte. Mit anderen Worten: Die Casinos dürfen keinerlei Unterhaltungsprogramm bieten, keine Werbung machen und keine Spirituosen an den Spieltischen servieren, die ohnehin nur täglich zwischen 14.00 Uhr und 4.00 Uhr morgens geöffnet sind. Das Gesetz verbietet den Casinos auch, ihren besten Kunden kostenlose Hotelzimmer anzubieten – in Amerika eine Selbstverständlichkeit. Außerdem dürfen keine Kreditkarten akzeptiert werden, und Schecks lassen sich nur nach vorheriger Vereinbarung einlösen.

Doch vor allem anderen stoßen erstmalig Spielwillige in London auf die berüchtigte Achtundvierzig-Stunden-Regel, die – wie die meisten von Großbritanniens repressiven Glücksspiel- und Wettgesetzen – dazu gedacht ist, impulsives Spielen zu verhindern. Mütterchen England bemüht sich eifrig, Otto Normalverbraucher davon abzuhalten, auf dem Heimweg vom Büro mit seiner mageren Lohntüte im Casino vorbeizuschauen, in der verzweifelten Hoffnung, dort das Geld für seine Weihnachtseinkäufe verdoppeln zu können. Zugleich ist die britische Glücksspielkommission, das so genannte Gaming Board, aber auch bestrebt, die Dagobert Ducks dieser Welt daran zu hindern, bei einem Fünf-Sterne-Dinner einen über den Durst zu trinken und ihre eisernen Prinzipien bei einer kleinen Wette an einem der nahegelegenen Spieltische über Bord zu werfen.

Um in einem dieser Clubs spielen zu können, muss man also persönlich dort erscheinen, einen Antrag auf Mitgliedschaft ausfüllen und achtundvierzig Stunden warten, ehe man die Genehmigung bekommt, sich an den Spieltisch zu setzen oder seine Wetten zu platzieren. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, dies alles zu umgehen: Man erscheint als Gast eines Clubmitglieds. Doch dieses Mitglied muss wirklich ein persönlicher Freund sein – und nicht, wie früher üblich, ein entgegenkommender Hotelportier oder dergleichen. Außerdem muss dieser Bürge so lange im Club verweilen wie der Gast. Ist die Frage der Mitgliedschaft jedoch einmal geregelt, gilt diese lebenslang – es sei denn, das Clubmanagement findet irgendeinen Grund, einen vor die Tür zu setzen. Und da dieser Verweis völlig ohne Erklärung erfolgen kann, genügt als guter Grund meist schon irgendein größerer Gewinn.

Die meisten Clubs verlangen eine einmalige Aufnahmegebühr in Höhe von 100 bis 500 Pfund. Allerdings wird diese Summe gern einmal erlassen und eine Ehrenmitgliedschaft gewährt, wenn der Antragsteller wie ein High Roller, also wie ein Edelzocker aussieht. Sie wollen wissen, wie viel Geld man einsetzen muss, um sich diesen begehrten Titel zu verdienen? Die Antwort der Clubs lautet: Wenn Sie diese Frage stellen, können Sie sich die Mitgliedschaft gar nicht leisten. Die Schätzungen in Mayfair gehen zwar auseinander, aber Sie müssen wahrscheinlich mindestens 4 000 Pfund für eine Runde Roulette, 4 000-8 000 Pfund für jede Blackjack-Hand oder 15 000 Pfund per Coup beim Punto Banco rechnen. Eine andere Londoner Definition für einen echten High Roller lautet: jemand, der 100 000 Pfund pro Abend oder 500 000 Pfund an einem Wochenende riskiert, ohne zu auffällig mit der Wimper zu zucken. Sämtliche Londoner Clubs haben Höchstgrenzen pro Einsatz – beim Roulette beispielsweise
1 000 Pfund pro einzelner Zahl -, trotzdem wird nirgendwo auf der Welt mehr Geld umgesetzt als hier.

Zu Beginn meiner Karriere als Pokerprofi erstreckte sich diese Pauschalaussage auch auf das Pokern. Ein harter Kern von etwa einem Dutzend sehr reicher und sehr entschlossener Spieler setzte sich zu einer zeitlich unbegrenzten Runde Lowball zusammen – Seven-Card Stud, bei dem die niedrigste Hand gewinnt – und spielte um sehr hohe Einsätze. Der Ruf dieser Pokerrunde verbreitete sich um die Welt, und bald standen Amerikaner, Skandinavier, Franzosen und Deutsche Schlange, um Zugang zu diesem illustren Kreis zu erhalten, dessen Mitglieder Nacht für Nacht sechsstellige Summen gewannen und verloren. Pots in Höhe von fünfzig-, sechzig- oder siebzigtausend Pfund ließen selbst die abgebrühtesten Vegas-Profis die Ohren spitzen – wodurch der weltweite Poker-Wanderzirkus um eine Attraktion reicher war.

Diese Runde fand entweder im Barracuda Club oder dem Victoria Casino statt, damals die beiden einzigen Londoner Spielclubs, die Pokerpartien anboten. Heute kann man auf Mayfairs Goldener Meile nirgendwo mehr Poker spielen – es sei denn, Sie sind der Sultan von Brunei samt Kumpels und möchten eine reale Ausgabe von Monopoly mit richtigen Grundstücken und Häusern auf der Parkstraße spielen. Zu diesem Zweck würde man Ihnen selbstverständlich den Salle Privee samt Dealer zur Verfügung stellen. In allen anderen Fällen ist das Management jedes britischen Spielclubs, genau wie die Leitung der Clubs in Las Vegas, deutlich mehr daran interessiert, auf der zur Verfügung stehenden Quadratmeterfläche die größtmögliche Rendite zu machen. Also stellt man ein halbes Dutzend weitere Roulette- und Blackjack-Tische an die Stelle, an der früher einmal die Kartentische gestanden haben. In Vegas behält das Haus einen bestimmten Prozentsatz von jedem Pot ein; in England kassieren die Clubs von den Spielern eine Tischgebühr pro Stunde.

In beiden Fällen verdienen die Betreiber deutlich weniger als mit den anderen Casinospielen, bei denen die Spieler ihr Geld zu relativ ungünstigen Quoten gegen das Haus setzen, statt es nur untereinander hin- und herzuschieben. Was die Umverteilung des Kapitals betrifft, folgt das Pokerspiel einer revisionistischen Linie, die nur wenige Casinomanager unterstützen. Im Victoria Casino hatte ich über Jahre immer wieder mal gespielt. Viele seiner habitues waren Zuflucht Suchende aus einem wesentlich kleineren und schäbigeren Club in Nordlondon namens Lyndhurst, der nach einer Razzia geschlossen worden war, weil eines seiner unbesonnenen Mitglieder ein illegales Wettbüro in den betreffenden Räumlichkeiten geführt hatte.

Die Launen der britischen Glücksspielgesetzgebung hatten auch dazu beigetragen, dass das Vic unter ständig wechselnder Leitung seine Pforten mehrfach öffnen und wieder schließen musste – aber irgendwie gelang es dem Kartensaal an der Edgware Road zu überleben. Mitte der achtziger Jahre erhielt er massive Konkurrenz von einem nagelneuen Etablissement namens The Barracuda (Number One Baker Street), dessen Kartenraum Kronleuchter und bequeme Stühle besaß. Beide Clubs veranstalteten Turniere. Doch im Vergleich zu den Gegnern, mit denen ich es jeden Dienstag zu tun bekam, spielten die Zocker im Vic und im Barracuda so solide wie der Fels von Gibraltar.

Im Großen und Ganzen waren sie durchaus nett, wenn auch mit einigen Ausnahmen. Das leicht anrüchige Ambiente schien dauernd irgendwelche Streitereien über die Regeln zu provozieren, die auch schon mal handgreiflich enden konnten – ganz zu schweigen von jenem berühmten Abend, als ein Spieler wegen schlechten Benehmens vor die Tür gesetzt worden war und kurze Zeit später mit einem Schießeisen zurückkehrte. Alles in allem also keine schlechte Unterhaltung – wenn nur das Pokerspiel ähnlich amüsant gewesen wäre. Doch hier gab es nur wenige schlagfertige Tischgespräche wie bei der Dienstagabendrunde, kaum etwas von der dort üblichen freundschaftlichen Kameradschaft und absolut keinerlei Bereitschaft zu jenem Risiko, das jede Hand am Dienstag zu einer potenziellen Goldmine machte.

In den Clubs saßen nur die Rocks, die die Nuts spielten, also gnadenlos verhaltene Spieler, die nur dann Einsätze brachten, wenn sie das bestmögliche Blatt am Tisch hielten – ein Pokerstil, den ich bis dahin als unsäglich langweilig empfunden hatte, an den ich mich nun aber widerstrebend gewöhnen musste. Mein erster Versuch in dieser Hinsicht kos-tete mich 600 Pfund, also fünf Prozent meiner Geldmittel, nur weil ich aus purer Langeweile und mit dem bestmöglichen Full House auf der Hand mein ganzes Geld setzte. Ich hätte wissen müssen, dass der alte Knacker zu meiner Linken, der den ganzen Abend keine einzige Hand gespielt hatte, natürlich vier Zehnen hatte.

Mein zweiter Versuch verlief kaum besser: Sozusagen als Übung in professioneller Selbstdisziplin wollte ich eine Hand nach der anderen passen und warten, bis sich diese analfixierten Geier endlich selbst auffressen würden. Natürlich erwies sich gelegentlich eines dieser weggeworfenen Startblätter als potenzieller Gewinner, und es ist eine Qual, 6 und 9 wegzuwerfen und dann mitanzusehen, wie im Flop 6-9-9 auftauchen. Aber auch das waren Dinge, die ich für mein neues Dasein als Pokerprofi zu lernen hatte – nicht nur eiserne Nerven unter Druck, sondern auch Gleichmut angesichts verpasster Chancen. Ich musste mir eben immer wieder sagen, dass es richtig war, 6-9 wegzuwerfen, und dass man ein solches Blatt in einer frühen Position einfach nicht spielte.

Nach rund zwei Stunden einer solchen Quälerei – und vor allem, wenn man den ganzen Abend lang nichts als klägliche Startblätter bekommen hat, beginnen schwache Hände stärker auszusehen, als sie wirklich sind. Jede noch so kleine Sequenz – eine 5-6 oder 6-7 – sorgt plötzlich für Spannung, besonders wenn man sich damit in später Position für wenig Geld den Flop ansehen kann. Bunkerkarten wie König-Dame erscheinen einem wie der Hauptgewinn im Lotto, selbst wenn man genau weiß, dass sie in der Rangliste der Anfangskarten weit hinten rangieren. Wenn dann der Flop noch K-Q-10 bringt, fühlt man sich fast schon verpflichtet, sein gesamtes Geld zu investieren, in der vagen Hoffnung auf ein Full House – selbst wenn man den lautstarken Libanesen auf der anderen Seite des Tischs auf A-J einschätzt, was ihm den besten möglichen Straight geben würde. Wenn sich dann herausstellt, dass man mit seiner Einschätzung richtig lag und damit all sein Geld verloren hat, verlässt man den Spieltisch wie ein Bär, der dringend seinen Winterschlaf braucht.

Im Barracuda fanden gelegentlich Turniere statt, die die besten Spieler Englands anlockten. In diesem Rahmen kam es an den Nebentischen zu lockeren und aggressiven Pokerrunden mit reichlich Action. Irgendwann tauchte die Handvoll Briten auf, die regelmäßig in Las Vegas zu Gast war, und stärkte meine Moral durch scherzhafte Bemerkungen über meinen beachtlichen Weltranglistenplatz (und natürlich meine Karo-König-Armbanduhr, die sich ziemlich schnell zu meinem Markenzeichen entwickelte). Und es gelang mir sogar, etwas Geld zu gewinnen: 300 Pfund für den fünften Platz in einem Turnier mit 45 Teilnehmern, und 1 200 Pfund dank eines guten Laufs an einem £ 5/£ 10-Hold’em- Nebentisch, womit ich das Konto mit meinem Spielgeld wieder ausglich. Doch die übrige Zeit hockte ich wieder mit den üblichen Verdächtigen zusammen, die eine halbe Stunde brauchten, bis sie 50 Pfund Einsatz brachten, am Tisch ihren Tee schlürften und auf Steaksandwiches herumkauten, während sie auf ein unschlagbares Blatt warteten.

Den meisten Spaß hatte ich in jenem Sommer mit meinen Söhnen, drei angehenden Cincinnati Kids, die mich während unseres Urlaubs mit der Familie der Puppe auf Cape Cod gnadenlos schröpften. Allmählich dämmerte mir, dass Pokern mit britischem Akzent irgendwie nicht richtig klang. Und in den Clubs auf dem Land war es auch nicht besser als in London, wie ich aus leidvoller Erfahrung wusste. Die dort nötige Menge an eiserner Selbstdisziplin lohnte einfach den Einsatz nicht: Wenn man Pech hatte, wartete man den ganzen Abend auf die passende Hand und fuhr dann mit ein paar hundert müden Pfund Profit nach Hause. Und die Londoner Lowball-Runde – für die ich finanziell deutlich zu schwach ausgestattet war – belegte die wenigen risikofreudigen Zocker der Hold’em-Schule mit Beschlag. Außerdem war ein Besuch der Clubs umständlich; man musste Jackett und Krawatte tragen und häufig auch noch ziemlich lange auf einen Platz in einem Spiel warten, bei dem man dann gar nicht zum Zug kam.

Die Londoner Clubs ließen die Dienstagabendrunde so exotisch erscheinen wie Monte Carlo. Dr. Samuel Johnson mag zwar mal gesagt haben: Wer Londons überdrüssig ist, der ist des Lebens überdrüssig – aber James Boswells Biographie über den alten Knaben erwähnt mit keinem Wort das £ 50-Stud-Spiel im Vic. Meine ersten Grundsatzentscheidungen als Profispieler lauteten daher: Ich würde die Londoner Clubs nur dann aufsuchen, wenn sich keine andere Gelegenheit auftat; ich würde die Dienstagabendrunde als gefährliches Freizeitvergnügen behandeln; und ich würde mein wahres Glück in der Ferne suchen. Es war Zeit für den Sprung ins Haifischbecken.

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