Interessante Poker Geschichten und Strategien Teil II – immer sauber bleiben

Das Board kann gewinnen?, wiederholte ich in einem Ton, als ob er meine Frage in einer fremden Sprache beantwortet hätte. Wenn das Board einen Straight oder einen Flush zeigt und keiner der Spieler, die noch im Spiel sind, diese Karte mit seinen Karten verbessern kann, dann wird der Pot geteilt.

Ah, ich verstehe, erwiderte ich, mit einem oscarreifen Anflug von Zweifel in der Stimme. Überall am Tisch wechselte man vielsagende Blicke. Jetzt waren sie reif für den krönenden Abschluss. Ich rieb mir die Hände wie ein Tourist mit mehr Geld als Verstand und erklärte im breitesten englischen Akzent: Dann lasst die Spiele beginnen!
Alle Anwesenden am Tisch riffelten ihre Chips, teilten sie mit einer Hand in zwei Stapel von sechs oder mehr Spielmarken auf und ließen die Stapel dann mit einer geschmeidigen Bewegung der Finger ineinandergleiten. Auf diese Weise zeigten sie den anderen, dass sie sich auskannten. Riffeln ist das Markenzeichen der echten Profis oder zumindest jener Leute, die zu viel Zeit am Pokertisch verbringen – eine Geschicklichkeitsübung, die schließlich zu einer Zwangshandlung wird, einem unbewussten Akt, mit dem man sich bei schwierigen Entscheidungen die Zeit vertreibt oder die Wartezeit bis zur nächsten Hand überbrückt. Sich beim Riffeln zu verhaspeln, kann äußerst peinlich sein:

Gerade wenn man versucht, einen besonders coolen Eindruck zu machen, rollen die eigenen Chips kreuz und quer über den Tisch und verraten dem ganzen Saal, was für ein blutiger Anfänger man ist. Nur für den Fall, dass mich jemand beobachtete – und eigentlich konnte ich davon ausgehen, dass alle Augen am Tisch auf mich gerichtet waren -, warf ich dem Geber einen lässigen Blick zu und versuchte mich an einem entspannten Riffeln meiner Chips. Doch wie fast immer weigerten sich die beiden Stapel, zu einem zu werden; stattdessen umkreisten die Chips einander wie zwei wütende Rugbyteams und kullerten schließlich in alle Richtungen über meine Karten. Trotz Unterrichtsstunden bei Experten ist es mir bis heute nicht gelungen, die Kunst des Riffelns zu meistern, aber in Augenblicken wie diesen kommt mir mein Unvermögen natürlich sehr gelegen.

Pokerhände bewusst schlecht zu spielen ist bisweilen eine größere Kunst, als auf Sieg zu pokern. Man braucht Glück und gutes Urteilsvermögen, um mit einem niedrigen Paar oder mit vier Karten eines Inside Straight (dem Ansatz zu einer Straße, wobei in der Mitte eine Karte fehlt) für wenig Geld im Spiel zu bleiben, wenn die Einsätze am Tisch deutlich zeigen, dass jemand anders bereits ein höheres Paar, vielleicht zwei Paare oder sogar einen Drilling (Trips), auf der Hand hat. Denn wenn man schon für einen Trottel gehalten werden will, sollte es einen wenigstens nicht so viel Geld kosten.

Eine seltsame Art der Investition, dachte ich, während ich ein weiteres Mal beim Riffeln versagte und anschließend wie ein echter Verlierer achtzehn Dollar verschenkte. Als die alte Lady auf Platz Drei – ein Pokerhai, wie er im Buche stand – mit unübersehbarer Schadenfreude ihr verdecktes Paar Damen auf den Tisch knallte und sich über die dritte Dame im Board freute, warf ich ihr einen langen und wütenden Blick zu, ehe ich meine 4-3 umdrehte. Im Flop war eine Vier gewesen, dazu Fünf und Sieben, was mir verschwindend geringe Chancen auf die schlechteste aller denkbaren Straßen eingeräumt hatte. Die anderen Spieler am Tisch konnten es kaum glauben: Ich war die ganze Zeit mit einem Paar Vierer mitgegangen und dann auch noch so naiv gewesen, ihnen dieses miese Blatt zu zeigen.

Plötzlich kam Leben in die Runde: Einige lehnten sich vor, andere zündeten Zigaretten an, und man spürte förmlich, wie der ganze Tisch einen Trottel witterte. Ein Spieler krempelte sich sogar die Ärmel auf und zählte seine Chips noch einmal durch. Noch ein paar solcher Hände von mir, und sie würden alle viel länger im Spiel bleiben, als sie sollten, auf der Jagd nach einem großen Topf voll Gold am Ende des Regenbogens. In ihren Augen war ich die Lizenz zum Gelddrucken. Die Wahrheit sah jedoch anders aus: Als der Trick zu wirken begann, nahm ich sie innerhalb einer Stunde komplett aus. Erst ein paar riskante, aber sauber kalkulierte Gewinne, die leicht auch als reine Glückstreffer hätten durchgehen können, wenn man dumm genug war, fast jede Hand zu spielen.

Dann passte ich ein paar Mal hintereinander, damit es so aussah, als würde ich mich an meine bescheidenen Gewinne klammern, und wartete in aller Ruhe ab, bis sie reif waren für den K. o. Meine Chance kam, als der Zufall mir die Boss Trips schenkte, den zu diesem Zeitpunkt höchsten möglichen Drilling im Spiel: Der Flop hatte ein Paar Buben (Jacks) gebracht, die perfekt zu Ass und Bube passten, die ich in der Hand hielt. Ich erhöhte um den Maximalbetrag, und jetzt wusste niemand am Tisch so recht, was davon zu halten war. Nach langem Überlegen beschlossen drei meiner
Mitspieler – mehr als genug -, dass ich jetzt end-gültig übergeschnappt sein müsste und dass ich immer noch nicht wusste, was ich tat. Ich war die Art von Spieler, gegen die es sich lohnte, eine Hand zu kaufen – also nach dem Flop mit vier passenden Karten für einen Straight oder Flush im Spiel zu bleiben, trotz schlechter Chancen auf das Erscheinen der passenden Karte auf dem Turn oder River.

Jetzt hatte ich sie da, wo ich sie haben wollte: Wider besseres Wissen setzten sie sich über die Wahrscheinlichkeit hinweg. Meine drei Buben wurden nicht mehr überboten und brachten mir 75 Dollar ein, einen für die Verhältnisse an diesem Tisch gigantischen Pot. Auch danach wuchs mein Chipstapel beständig an, weil ich zu allem Überfluss auch noch eine ungeheure Glücksstähne hatte: Ich bekam nicht nur erneut mit dem Flop den besten Drilling am Tisch, sondern konnte dieses Blatt, nach einigen hohen Wetteinsätzen rund um den Tisch, auf dem River noch in einen unschlagbaren Vierling verwandeln. Mit einem (wie sich herausstellte) Straight und einem Full House gegen mich – ich hatte diesmal also wirklich großes Glück gehabt – konnte ich zweimal erhöhen, und beide Male gingen die Gegner mit. Ich hatte sie eiskalt erwischt. Als ich meine Karten umdrehte, warf die alte Lady gutmütig ihr Full House auf den Tisch und wandte sich lächelnd mit einem unsterblichen Las-Vegas- Pokerspruch an mich: Was muss man tun, um so eine Hand zu bekommen?

Ich konnte nicht widerstehen, ihr die ebenso altehrwürdige Antwort zu geben: Immer sauber bleiben! Sie warf mir einen misstrauischen Blick zu, während ich die Chips einsammelte. Ach ja, fuhr ich fröhlich fort, es ist schon harte Arbeit, leichtes Geld zu verdienen. Nach diesem Dialog war das Spiel vorüber, meine Tarnung aufgeflogen, denn damit wussten alle, dass ich sie aufs Kreuz gelegt hatte. Wenn ich hätte riffeln können, hätte ich jetzt ein triumphierendes Türmchen gebaut. Stattdessen verabschiedete ich mich höflich, mit einem Gewinn von 300 Dollar in der Tasche – ein Vermögen in einem $ 3/$ 6-Spiel -, und suchte mir einen Platz an einem $ 10/$ 20-Tisch, für den ich mir zuvor schon im Geheimen beim Manager des Kartensaals einen Platz hatte reservieren lassen. Ein erneuter guter Lauf, in Kombination mit meiner relativen Anonymität, sorgte dafür, dass ich meinen Chipstapel auf 600 Dollar erhöhen konnte, kurz bevor das Turnier der Medienvertreter begann. Erschöpft vom Jetlag und zugleich bester Stimmung, brach ich eine meiner goldenen Regeln: Weil ich es nicht abwarten konnte, bis die Action weiterging, und weil mein Verhältnis zum Geld gewaltig in Schieflage geraten war, beschloss ich, in den fünf Minuten bis Turnierbeginn Blackjack zu spielen, und zwar mit 100-Dollar-Chips.

Der Geber hatte eine Pechsträhne, so dass sich meine 600 in kurzer Zeit in 1 000 Dollar verwandelten. Ein runder Gewinn ist normalerweise ebenfalls ein Punkt, an dem ich aufhöre, doch ich gönnte mir drei weitere Runden, ehe ich einmal verlor – ein weiterer abergläubischer Grund, ein Spiel zu beenden. Mit 1 200 Dollar in der Tasche, einem Profit von satten 500 Prozent auf meine ursprünglichen 200 Dollar, machte ich mich auf ins Horseshoe. Durch die wimmelnde Menge im Nugget, hinaus in die Gluthitze und vorbei an dem Schild, das die Fremont Street für die Dauer der Weltmeisterschaft zur World Series of Poker Avenue machte, stolperte ich quer über Straße mitten hinein in das noch größere Gedränge im Horseshoe.

Im überfüllten, abgesperrten Pokerbereich im hinteren Teil des Casinos näherte sich ein Weltmeisterschaftsturnier im Stud Poker, das den ganzen Tag über gelaufen war, der abendlichen Pause. Spieler, die all ihre Chips losgeworden waren, standen in Gruppen zusammen und bedauerten einander oder suchten nach Trost in den Pokerrunden am Rande des Turniers und spielten dabei konstant um sehr viel höhere Einsätze als in jedem der Weltmeisterschaftsturniere. Dicke Stapel von Hundertdollar-Scheinen, nachlässig von Gummibändern zusammengehalten, lagen auf den Tischen der echten High Roller, weil die Werte auf den Chips nicht mehr mit der Höhe der Einsätze mithalten konnten. Es ist immer wieder ein faszinierender Anblick, diesen Typen dabei zuzusehen, wie sie fünf- oder zehntausend Dollar in bar abzählen, als ob sie eine Busfahrkarte kaufen – eine Welt, in der ein Einsatz oder eine Erhöhung um einen Nickel fünfhundert Dollar und um einen Dime tausend Dollar bedeutet.

Wer sich an einen solchen Tisch setzt und um einen Big Dime mitgeht, hat damit nicht weniger als zehn Riesen in den Pot eingezahlt. Nur in den drei Wochen rund um die World Series wird im Horseshoe Poker gespielt; während der restlichen 49 Wochen ist der Turnierbereich mit einem Labyrinth von Spielautomaten zugestellt, die dem Management wesentlich mehr Geld pro Quadratmeter einbringen. Doch für drei Wochen im Jahr ist Binion’s das Zentrum der Pokerwelt, und das Casino brummt wie kein anderer Spielsaal auf dieser Erde. Es wirkt zwar nicht so glamourös wie die Casinos auf dem Strip oder das Golden Nugget auf der anderen Straßenseite, wo einem Tausende von glitzernden Lichtern und silbernen Spiegeln in den Augen flackern und zu kühnen, unbedachten Entscheidungen drängen, aber das ist ganz bewusst so gewollt.

Das Horseshoe bietet seinen Kunden eine traditionelle Atmosphäre wie in einem alten Western- Saloon, dazu bessere Prozente und höhere Limits, die zu schnellerem Spiel um große Einsätze führen. Aufwändige Bühnenshows, Souvenirläden und internationale Restaurants, die so typisch sind für das Touristenbild von Vegas, sucht man hier vergebens, ebenso wie die etwas zweifelhafteren Attraktionen von Glitter Gulch, dem Inbegriff des legalen Rotlichtviertels, wo das große Schild Nackt auf dem Eis am Union Plaza Tag und Nacht vom Horseshoe aus zu sehen ist. Nein, im Binion’s Horseshoe dreht sich alles ums Glücksspiel – ernsthaftes Glücksspiel, ohne Schnickschnack, rund um die Uhr. Kein Wunder, dass es hier im Umkreis von einer Quadratmeile mehr Pfandleihen gibt als im Großraum London zusammen.

Während das Stud-Turnier in einer Ecke des Saales langsam seinem Höhepunkt entgegenstrebte, schafften die Offiziellen in einer anderen Ecke mühevoll Platz für die Amateure von den Medien, was das allgemeine Spieltempo im Saal deutlich verlangsamte. Verhalten begrüßte man einander, Visitenkarten wurden ausgetauscht wie Baseballkarten, und langsam stimmten sich die Damen und Herren von der Presse auf die alljährliche Wiederauferstehung des legendären New Yorker-Literaturstammtischs im Algonquin Hotel ein. Alle waren sie beseelt von dem Wunsch, im Stil eines Dämon Runyon zu gewinnen – oder wenigstens mit dem Witz eines James Thurber zu verlieren.

Der elegante Henri Bollinger aus Los Angeles, drei Mal Präsident der Publicists Guild of America, war der Direktor dieses jährlich wiederkehrenden Zirkusses, der den Traum aller Journalisten wahr werden lässt: freie Unterkunft und Logis für die Dauer eines Aufenthalts in Las Vegas. Er verteilte Pressemitteilungen, in denen stolz behauptet wurde, dass die World Series of Poker inzwischen ein internationales Ereignis von so großer Bedeutung ist, dass die Londoner Times über den Turnierverlauf berichtet. Dafür konnte ich mich verbürgen: Schließlich war ich der fragliche Berichterstatter und hatte in Vegas mit meinem smarten Akkreditierungsschildchen schon für so manche hochgezogene Augenbraue gesorgt. Mittlerweile drängelten sich hier etwa sechzig Journalisten und erwarteten den Beginn des Turniers – der einzige Wettbewerb der World Series, für den keine Teilnahmegebühren verlangt wurden.

Dem Sieger winkten übrigens ein Geldpreis von 1 000 Dollar und ein Pokal, auf den ich schon lange scharf war: eine Art mehrstöckige silberne Hochzeitstorte mit der aufdringlichen Aufschrift für Hervorragende Leistungen Im Poker In Las Vegas. Einige Teilnehmer waren tatsächlich Anfänger. Sie kamen von amerikanischen Lokalzeitungen und konnten ihr Glück, sich diesen Bombenauftrag geangelt zu haben, noch immer kaum fassen. Allzu viele andere jedoch arbeiteten als Hold’em- Korrespondenten oder Kolumnenschreiber für Zeitschriften wie Poker Player oder Gambling Times. Bisher hatte jedes Mal einer von ihnen die Trophäe mit nach Hause genommen, die eigentlich schon längst mir zugestanden hätte, und sei es nur als Würdigung für meine langjährige Teilnahme. Aber vielleicht war heute ja die Nacht der Nächte.

Inzwischen hatte ich schon einige ortsansässige Bekannte und ein paar Kumpels aus London getroffen, die allesamt nicht die Augen von diesem krankhaft faszinierenden Pokal lassen konnten. Von überall hörte ich meinen Namen – bis mir irgendwann klar wurde, dass über die Saallautsprecher kein immer wiederkehrendes Tony Holden zu hören war, sondern die Spieler für das Ten-Twenny Hold’em, das $ I0/$ 20-Hold’em-Turnier, an die Tische gebeten wurden. Da Casinospiele in London meist in völliger Grabesstille stattfinden, brauche ich in Vegas immer mindestens eine Stunde, um meine Ohren an das Geschnatter um mich herum zu gewöhnen, das höchstens einmal von den spitzen Schreien der Jackpot-Gewinner an den Spielautomaten übertönt wird. Im Horseshoe standen die Spieler drei Reihen tief um die Würfeltische; jeder Blackjack-Platz war belegt; an den Roulette- und Bakkarat-Tischen herrschte Hochbetrieb; und dazwischen wogte eine riesige, amorphe Menschenmasse, darunter einige der dicksten Hintern der Welt, hin und her – in jede Richtung, nur nicht zum Ausgang.

Durch das Stimmengewirr drang eine unverfälschte Londoner Begrüßung an mein Ohr. Sie kam von David Spanier, einem meiner Pokerkumpels aus der Heimat und Autor einiger gelehrter Abhandlungen über Poker und Glücksspiele, der im Auftrag einer englischen Tageszeitung über die World Series berichten sollte. Dann hörten wir, dass das Turnier für die Medienvertreter aufgrund der unerwartet großen Resonanz um eine Stunde verschoben worden war. Also fassten David und ich den Entschluss, zusammen mit dem Mann von Reuters vor Turnierbeginn noch schnell einen Happen zu essen. Das war eigentlich keine gute Idee, wie ich von befreundeten Pokerprofis wusste: Essen vor dem Spielen lässt das Gehirn träge werden. Außerdem war Spanier schon seit einer Woche in der Stadt und wirkte in meinen vom Jetlag getrübten Augen beunruhigend munter.

Aber sei’s drum – ich war schon viel zu weit jenseits von Gut und Böse, als dass eine fünfte Mahlzeit an diesem Tag daran noch etwas geändert hätte. Bei billigem Hühnchen und noch billigerem Wein, die sich beide nicht allzu gut mit dem erlesenen Chateau Talbot vertrugen, den ich auf dem Hinflug genossen hatte, verabredeten David und ich eine kleine Nebenwette: eine Flasche Champagner für denjenigen, der länger im Turnier blieb. Vier Stunden später, nachdem ich von irgendwoher die Kraft für meinen zigsten Durchstart an diesem Tag genommen hatte, fand ich mich wie durch ein Wunder unter den letzten zehn Spielern von ursprünglich sechzig Teilnehmern wieder. Das größte Ziel jedes Turnierspielers ist der Finaltisch – ein Platz unter den letzten neun Spielern, die allesamt ins Geld kommen und mit Bargeld sowie einem Satinblouson zur Erinnerung belohnt werden. Bis noch einer von uns ausgeschieden war, spielten wir also an zwei Fünfertischen. Ein versteckter Seitenblick zum Nachbartisch zeigte mir, dass Spanier, sehr zu meiner Bestürzung, ebenfalls noch im Turnier war.

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihn, wie er mich beobachtete. Mir wurde klar, dass wir beide uns längst in einem absurden englischen Zwischenreich befanden, in dem wir gegeneinander antraten, anstatt uns auf unsere wahren Gegner auf der anderen Seite des Pokertischs zu konzentrieren. Keiner von uns hatte noch viele Chips vor sich. Unsere einzige Chance auf einen Turniergewinn hätte darin bestanden, alles auf die erste halbwegs vernünftige Hand zu setzen, fest entschlossen, den Einsatz zu verdoppeln und so eine weitere Stunde am Tisch durchzuhalten. Stattdessen passten wir beide bei jeder Hand, im verzweifelten Versuch, den anderen zu überleben und die Flasche Möchtegern-Champagner zu gewinnen. In Augenblicken wie diesen – und unter ehrgeizigen Menschen wie uns beiden Briten fern der Heimat – zeigt das männliche Ego einen ärgerlichen Hang zur Unterdrückung gesunder Pokerinstinkte.

Nachdem ich mir dies alles mühevoll bewusst gemacht hatte, bekam ich ein Paar Buben auf die Hand und traf die logische Entscheidung, meine Chipanzahl zu verdoppeln und Spanier damit endgültig fertigzumachen. Ein anderer Spieler ging mit, bekam aber den von ihm erhofften Karo Flush nicht zusammen. Während ich meine Gewinne einsammelte und zu einem einzigen hohen Turm stapelte, nur um Spanier zu ärgern, schaute ich zu ihm hinüber, um festzustellen, ob er meinen Coup registriert hatte. Tatsächlich hatte er alles ganz genau verfolgt – und sein eigener Chipstapel war inzwischen zu klein, um noch mehr als eine Hand zu spielen, in der er außerdem sein Ante, seinen Grundeinsatz, bringen musste.

Spanier – so erzählte er mir später – spielte so langsam wie irgend möglich, in der Hoffnung, ich würde etwas Unüberlegtes tun. Und er hatte Glück: Ein schneller Blick auf meine Handkarten zeigte mir Ass und König von Karo, eine sehr starke Anfangskarte, aber gelegentlich anfällig für dumme Zufälle. In Texas, wo dieses Spiel schließlich erfunden wurde, trägt A-K den Spitznamen Walking Back to Houston, weil die Kartenhaie von Dallas diese Anfangskombination so gut spielen, dass schon mancher Einwohner Houstons danach pleite zu Fuß nach Hause gehen musste. Und A-K von einer Farbe (suited) ist natürlich noch stärker einzuschätzen. Siegesgewiss setzte ich all meine Chips – nur um festzustellen, dass irgendein Idiot mit einem Bubenpaar mitging, derselben Hand, die mir gerade eben noch so viel Glück gebracht hatte. Zu meinem Entsetzen tauchten im Flop 3-4-J auf, und keine der drei Karten war ein Karo.

Damit hatte mein Gegner einen Drilling, und meine einzige Siegeschance bestand darin, dass mit den letzten beiden Karten Dame (Q) und 10 oder 2 und 5 auftauchten. Schön wär’s gewesen. Abgang Holden – mit dem Ergebnis, dass Spaniers Spielverzögerung ausreichte, ihm den neunten Platz und ein Preisgeld von 75 Dollar zu sichern, als er nur wenige Sekunden nach mir ausschied. Bei einem Glas schrecklich schlechtem Champagner, von dem ich ernsthaft hoffte, er würde daran ersticken, wurde Spanier endgültig größenwahnsinnig. Er schlug vor, dass wir uns einer $ 1/$ 3-Stud-Pokerrunde anschließen sollten, in der der harte Kern professioneller Pokerjournalisten zusammensaß. Dabei waren neben Len Miller, Herausgeber von Gambling Times, Männer wie Tex Sheehan und Bill Bulldog Sykes, langjährige Kolumnisten des Magazins Poker Player und seit ewigen Zeiten als Profispieler in Las Vegas unterwegs.

Aufstöhnend protestierte ich, ich hätte Besseres zu tun – obwohl mir, wenn ich ehrlich war, im Augenblick nichts wirklich Besseres einfiel, als mich schlafen zu legen, wofür auch später noch genügend Zeit blieb. Ich fühlte mich zu erschöpft, um Poker um hohe Einsätze zu spielen; außerdem gebot es die Höflichkeit, mich mit diesen Leuten, die mir all die Jahre über immer freundlich gesinnt gewesen waren, zu einer Pokerrunde zusammenzusetzen, welche mittlerweile selbst schon eine Art Tradition darstellte. Und da mich Spaniers hinterhältiger Triumph weitaus mehr ärgerte, als ich mir selbst eingestehen wollte, holte ich einen Zwanziger aus der Tasche und nahm mir vor, damit ein paar Stunden über die Runden zu kommen.

Nur eine Stunde später hatte ich 45 Dollar daraus gemacht – keine schlechte Leistung in einer so hart umkämpften und routinierten Runde. Doch trotz meines unglaublichen Laufs war ich nicht wirklich mit dem Herzen dabei. Lag es am Jetlag oder an purer Langeweile, dass ich beinahe am Tisch einschlief? Ich beschäftigte mich gerade intensiv mit dieser Frage – immerhin hielt mich das wach als über die Saallautsprecher ein 1 000- Dollar-Satellitenturnier für The Big One angekündigt wurde. Bei diesem Satellite würden sich zehn Spieler mit je 1 000 Dollar Einsatz an einen Tisch setzen und so lange pokern, bis einer von ihnen allen anderen das Geld abgeknöpft hatte. Mit anderen Worten: Hier bot sich die Chance, für einen lächerlichen Tausender einen Platz beim 10 000-Dollar-No-Limit-Hold’em-Turnier zu ergattern, dem eigentlichen Weltmeisterschaftsturnier der World Series.

Satellites sind Miniaturausgaben der großen Pokerturniere, bei denen Amateure auch mit begrenzten finanziellen Mitteln den Kick des echten Pokerns erleben können. Wenn man in einer herkömmlichen Pokerrunde um Geld sein Bares verliert, muss man im schlimmsten Fall tief in die Tasche greifen. Verliert man dagegen bei einem Pokerturnier all seine Chips, scheidet man aus dem Turnier aus und ist nur seine Teilnahmegebühren los. Turniere sind also eine preiswerte Möglichkeit, unschätzbare Erfahrungen zu sammeln, weil man sich dabei mit den großen Jungs an einen Tisch setzen kann, ohne zu viel Geld zu riskieren. Das Gleiche gilt auch für Satellites, obwohl dieses hier nicht wirklich preiswert war. Es sei immer noch ein Platz frei, wiederholte die Stimme über mir unablässig; die anderen Spieler warteten schon. Na los, Leute, ist denn hier keiner, der einen Tausender übrig hat?

Meine Gedanken wanderten zu dem Riesen in meiner Tasche, den ich mit Glück und Geschick drüben im Nugget gewonnen hatte. Ehe ich mich besann, schoss mein Arm in die Höhe, und ich rief meinen Namen quer durch den Raum in Richtung Satellite Betty, der Organisatorin dieser Turniere, deren elektrisch verstärkte Stimme mich damit sirenengleich verlockt hatte, meinen ersten Abend in Vegas womöglich ohne meinen bisherigen Tausender Profit zu beenden. Die Typen in der $ 1/$ 3-Runde starrten mich fassungslos an. Ich warf ihnen einen entschuldigenden Blick zu und hoffte, dass ich nicht zu viele Gefühle verletzt hatte – schließlich war nur die pure Langeweile am Tisch der Auslöser für meinen Akt übermäßigen Ehrgeizes gewesen. Die Teilnehmer an den 1 000-Dollar-Satellites gehörten zu den besten Spielern der Welt, und ich hatte alles Recht, mich wie Daniel in der Löwengrube zu fühlen (David unter lauter Goliaths wäre wohl etwas zu hoch gegriffen).

Ich wünschte, ich könnte Ihnen beschreiben, was dann passierte. Betrunken, schwer angeschlagen vom Jetlag und so müde, dass ich schon fast nicht mehr wusste, wo ich war, scheine ich auf Autopilot gespielt zu haben – wahrscheinlich der optimale Zustand für einen Spieler, der so weit außerhalb seiner Liga war und um einen so hohen Einsatz antrat wie ich. Aber irgendetwas muss ich richtig gemacht haben, denn es waren nur noch drei Spieler am Tisch, als mich die Inspiration, die ich so dringend brauchte, überkam – in Form einer plötzlichen, überwältigenden Wolke von Fracas, eines intensiven und mir sehr vertrauten Dufts, der das Eintreffen der Puppe ankündigte, die ihren kleinen Ausflug zu Freunden nach San Francisco beendet hatte. Das Ereignis muss eine elektrifizierende Wirkung auf mich gehabt haben.

Von diesem Augenblick an konnte ich nichts mehr falsch machen, und nur dreißig Minuten später kehrte ich triumphierend zum 1 -Dollar-Tisch zurück – als Gewinner von theoretisch 9 000 Dollar und stolzer Besitzer eines offiziell bezahlten und auf meinen Namen ausgestellten Teilnehmerausweises für die Weltmeisterschaft. Ich blieb noch ein paar Stunden am Tisch und machte sie fertig. Nach zehn Jahren als Zaungast sollte sich für mich ein unmöglicher Traum erfüllen: Ich war beim Big One dabei.

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